Gegen den Strich

Es ist 9 Uhr morgens an einem unglaublich sonnigen Tag. Ich mache mir einen Mate-Tee und fahre den Rechner hoch, um mit der Arbeit zu beginnen. Die Sonne scheint durchs Fenster und blendet mich… ich kann nicht widerstehen, ich muss rausgehen. Ich gehe raus.

Es ist der perfekte Morgen, um Fahrrad zu fahren. Manchmal hilft mir das Gehen oder Radfahren, beim Denken einen Rhythmus zu erzeugen … Ich stelle mir mögliche Stadtrundfahrten vor, mit deren Hilfe meine eigene Erzählung über die Geschichte entsteht.

Ich glaube nicht, dass es eine historische Wahrheit gibt, weil niemals nur eine einzige Wahrheit existiert, und wie wir bereits wissen, wird die offizielle Geschichte von der Macht geschrieben. Es gibt nur verschiedene  Geschichtserzählungen. Und weil die Geschichte lebendig und in permanenter Bewegung ist, ist es uns möglich, in sie einzugreifen und sie zu verändern.

Schau dir zum Beispiel diesen Platz an, der vollständig eingezäunt ist. Alle Plätze der Stadt sind eingesperrt! Es ist eigenartig, aber ich denke, dass man aus solchen Zeichen Geschichte entziffern kann, sie weben den Text der Stadt und erzählen uns eine Geschichte.

Und hier, schau, hier ist das Abgeordnetenhaus, der Nationalkongress, und kaum ein paar Meter davon entfernt die Plaza de Mayo, wo die Mütter mit ihren Kopftüchern ihre berühmte Runde drehen, das Cabildo (Hauptsitz der spanischen Kolonialadministration), wo unsere Unabhängigkeit ausgerufen und die Gleichheit aller bestätigt wurde, und dort, wenige Meter weiter das Monument zu Ehren Rocas. Trotz aller demokratischer Symbole, ehrt die Stadt auch den Völkermörder und Rassisten, der die Sklaverei 1879 wieder einführte, die durch die fortschrittliche verfassungsgebende Generalversammlung des Jahres 1813 bereits abgeschafft worden war. Auch ein Museum ist dem General Roca gewidmet, das Fotos der indigenen Bevölkerung zeigt, die er massakrierte. Das ist die Geschichte, aus denen Körper und Städte gemeißelt werden, und unsere Körper und unsere Stadt wurden durch den wiederholten Terror der Militärregierungen gemeißelt, die seit 1930 fast so zahlreich waren wie zivile Regierungen.

Wenn ich heute eine Karte der Stadt erstellen müsste, würde ich von diesen Symbolen ausgehen, jeder Boulevard ein Nationalheld, jeder Platz ein Gitter, Orte, die als geheime Haft- und Folterzentren während der letzten Militärdiktatur genutzt wurden und eine direkte Linie zu den Zwangsräumungen der Regierung Macris in Buenos Aires bilden. Grausam und systematisch räumt die Regierung – zugunsten ihrer Millionen-Deals im Immobiliengeschäft  – vorwiegend Gemeinschaftszentren, die von sozialen Organisationen und Nachbarschaftsvereinen zurückerobert worden waren und die sich der Förderung von Kultur, Erinnerung und politischer und sozialer Reflexion verschrieben haben.

Hier gab es den kollektiv genutzten Raum der Nachbarschaftsversammlung von Almagro, hier in der Nähe das Zentrum Huerta Orgázmika, dort das Kulturzentrum Trivenchi im Stadtteil Chacarita, wo mehr als elf Gruppen arbeiteten, noch etwas weiter entfernt im Viertel Villa Urquiza gab es die Casa Zitarrosa und das Kulturzentrum 25 de Mayo (25. Mai) und so viele andere…

Das ist die Geschichte, die natürliche Semantik einer Stadt, die mich in ihre Schranken weist.

Aber auf meiner Karte würde ich auch ihr anderes Gesicht zeichnen, die Orte des Widerstands, der Kollektive, der Organisationen und verschiedenen Gruppierungen und Projekte, die aus ihrer jeweiligen Perspektive heraus das hegemoniale System anzweifeln.

Etwas anzuzweifeln heißt, die Geschichte gegen den Strich zu lesen, Räume der Reflexion und andere Sichtweisen auf die Welt zu ermöglichen, die notwendig sind, um eine kritische Position herauszuarbeiten.

Ich hege Zweifel an den Schulbüchern, den verlogenen Karten, der Vergiftung der monopolisierten Information durch ökonomische Interessen, der Zersplitterung des Landes, den Berichten über die Geschichte, die uns die Herrschenden erzählen, den institutionalisierten Erzählungen, den Institutionen, an jenen Erzählungen, die die indigene Bevölkerung, die Schwachen, die Armen und jene, die anders sind, von der Karte streicht, jene also, die buchstäblich aus der Karte heraus fallen.

Mächtigstes Symbol dieser anderen Karte sind die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo, undiszipliniert, aufbegehrend, die für das Land ein kollektives Imaginäres zurückeroberten, das den Widerstand gegen das unterdrückende System, den Kampf und den Glauben an Einheit und Solidarität der Menschen und Bevölkerungen in den Vordergrund rückt. Für mich sind sie ein konkretes Beispiel dafür, dass Veränderung möglich ist und dass, wie Osvaldo Bayer sagt, „in der Geschichte immer die Ethik siegt.“

Übersetzung: Marcela Knapp

4 Kommentare zu 'Gegen den Strich'

  1. Estupendo relato, María. Me parece válido comparar la historia con las dos caras de una moneda, como la máscara y el rostro desenmascarado de la verdad, una piel sin maquillajes y que no aplica para la portada de la revista de moda. Pienso que la historia puede tener tantas formas como seres humanos sobre la tierra: la suma de relatos cotidianos que a la larga ofrecen su peso y su importancia para hacerse históricos e inolvidables. Las Madres y las Abuelas de Plaza de Mayo son un ícono de lo que está prohibido olvidar.

    Spandeutsch (Marcela):

    „Wunderbare Erzählung, María. Es erscheint mir überzeugend, die Geschichte mit den zwei Seiten einer Münze zu vergleichen, wie das maskierte und unmaskierte Antlitz der Wahrheit, eine Haut ohne Schminke, die nicht auf das Titelblatt einer Modezeitschrift passt. Die Geschichte kann so viele Formen annehmen, wie es Menschen auf der Welt gibt: die Summe der alltäglichen Erzählungen, die auf lange Sicht ihr Gewicht und Bedeutung anbieten, um historisch und unvergessen zu werden. Die Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo sind Ikonen, die unmöglich vergessen werden dürfen.“

  2. Liliana Lara sagt:

    Fascinante tu mapeo de la ciudad. Impresionante las plazas enrejadas, pero supongo que en Caracas estarán igual. Iba a decir que la verdadera historia está en esas marcas, pero la verdad es que no hay una historia verdadera, sino versiones… Entonces, mejor digo: La versión de la historia que me interesa es esa que va dejando sus marcas en pequeños reveses y detalles de las cosas, las calles, las plazas, la gente común, los otros, etc. Una historia sin grandilocuencias, que no está en los manuales ni habla de „patria“. Esas madres y abuelas que cada una es metáfora de un cuento terrible.
    Súper interesante el link!
    Un abrazo!!

    Spandeutsch (Marcela):

    „Faszinierend, deine Karte der Stadt! Die eingezäunten Plätze sind beeindruckend, aber ich nehme an, dass sie in Caracas ähnlich wären. Ich wollte sagen, dass sich die wahre Geschichte in diesen Markierungen wiederfindet, aber die Wahrheit ist, dass es keine wahre Geschichte gibt, sondern Versionen… Insofern sage ich wohl besser: Die Version der Geschichte, die mich interessiert ist jene, die ihre Markierungen in kleinen Umkehrungen und Details auf den Dingen, den Straßen, den Plätzen, den normalen Menschen und den anderen usw. hinterlässt. Keine hochtrabende Geschichte, die sich nicht in Schulbüchern finden lässt und auch nicht von „Vaterland“ spricht. Jede dieser Mütter und Großmütter ist eine Metapher einer schrecklichen Geschichte.
    Interessanter Link!“

  3. maria medrano sagt:

    gracias chicas por los comentarios… me gusta partir de lo cotidiano, de lo pequeño… desde lugares tan comunes que a veces por eso ni advertimos… o terminamos naturalizando. leyendo lo que dicen, imagino ahora que esas mismas „marcas en pequeños reveses y detalles“… pueden ser también poemas, no? me interesa pensar la poesía también desde esta perspectiva, sin maquillaje, sin mayúsculas y cuyo principal alimento sea presente. Poetas como cronistas… !

    Spandeutsch (Marcela):

    „chicas, danke für die kommentare… ich gehe gerne vom alltäglichen aus, vom kleinen… von so gewöhnlichen orten, dass wir sie manchmal nicht einmal bemerken… oder wir sie naturalisieren. nachdem ich gelesen habe, was ihr geschrieben habt, denke ich, dass die „kleinen umkehrungen und details“ auch gedichte sein können, oder? ich finde es spannend, die poesie auch aus dieser perspektive zu betrachten, ohne schminke, ohne großschreibung und deren zentrale nahrung die gegenwart ist. dichter sind chronisten…!“

  4. Hola María, he visitado contigo en bicicleta la ciudad, gracias por servirme de guía. Disfruté tanto del buen sol como de los comentarios a los monumentos, a los edificios… La frase de Bayer es fascinante, sobre todo por lo que tiene de categóricamente cierto, a pesar de que en una primera ojeada pudiera pensarse que es sólo un buen deseo, pero cuyo optimismo se pierde sin embargo en la práctica cotidiana. No obstante, nada es más concreto y realista con respecto a la historia que esa frase: la ética, que difiere de la moral, es nuestro modo de actuar frente a la vida según nuestra versión de la justicia; en otras palabras, la ética es una justicia personal…, por ello no cabe duda de que si a alguien le toca definir el desenlace de un momento histórico, esta será al fin y al cabo resuelto por la ética.

    Saludos desde La Habana, y encantada de pasear contigo en bicicleta.

    Spandeutsch (Marcela):

    „Hallo María, ich habe mit dir auf dem Fahrrad die Stadt besichtigt, danke für die Stadtführung. Ich habe die Sonne wie auch die Kommentare über die Monumente und Gebäude sehr genossen… Der Satz von Bayer ist faszinierend, vor allem, da er sich absolut sicher ist, obwohl der Satz auf den ersten Blick aussieht, als ob es nur ein frommer Wunsch sei, deren Optimismus sich jedoch in der Alltagspraxis verliert. Nichtsdestotrotz ist nicht konkreter und realistischer in Bezug auf die Geschichte als dieser Satz: die Ethik, die von der Moral abweicht, ist unsere Art und Weise angesichts des Lebens unserer eigenen Version der Gerechtigkeit nach zu handeln: anders gesagt ist die Ethik ein persönliches Recht…, wenn also jemand das Ende eines historischen Monuments bestimmen muss, wird dieses schlussendlich durch die Ethik entschieden.

    Grüße aus Havanna und es war mir eine große Freude, mit dir auf dem Fahrrad spazieren zu fahren.“