Ich bin immer ein Beobachter gewesen, der Gefühle ernst nimmt

Vor ihrem Tod überreichte mir meine Großmutter eine kleine Autobiografie, die sie mit großer Mühe im Laufe ihrer letzten Jahre in einem Altenwohnheim in Buenos Aires in eine verrostete Schreibmaschine getippt hatte. Hin und wieder ging ich sie besuchen und wir tranken dann einen Kaffee in einer der Bars in der Gegend um die Plaza Italia. Bei einem jener Besuche übergab sie mir das Manuskript.

Calcagno - Foto: Mariano Maur


Feierlich überreichte sie mir die Fragmente ihres Lebens, die ihr der Beginn der Senilität noch erlaubt hatte, auf wenigen Seiten aufzuzeichnen. Die Feierlichkeit ist in meiner Familie mütterlicherseits etwas Unvermeidliches. Wir alle, auch meine eigene Mutter, versuchen immer, unseren kleinen Überlegungen solche Aufmerksamkeit zu verschaffen, als ob sie es würdig seien, in dicken Buchbänden veröffentlicht und später in der Nationalbibliothek aufbewahrt zu werden. Offen gestanden glaube ich, dass es sich hierbei um ein Erbe meines Großvaters handelt, dem Mann der Autobiographin. Er war ein äußerst ernster Typ, Anhänger eines rechten Nationalismus, an den sich heute niemand mehr erinnert, der aber einmal auf der ganzen Welt in Mode war. Ein antiliberaler Mensch in jeder Hinsicht und jeder Couleur: Töte die Schwulen, die Gringos, die Linkshänder, die Weiber usw. Die sonntäglichen Diskussionen während des Mittagessens, zum Beispiel, endeten immer damit, dass er – genervt von der ansteigenden Lautstärke und familiären Gereiztheit – mit der Faust auf den Tisch schlug und ein etwas altmodisches Schimpfwort von sich gab wie: Himmeldonnerwetter nochmal! Diese aus der Mode geratenen Schimpfwörter lösten bei den Kleineren von uns solche Lachanfälle aus, dass wir hinausliefen, um die Feierlichkeit des Augenblicks nicht zu stören.

Die Unterhaltungen mit meiner Großmutter drehten sich immer um Politik oder Philosophie. Sie verfügte über ein umfangreiches Wissen auf diesen Gebieten, da mein Großvater Geschichtsprofessor war und sie eine der ersten Absolventinnen der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Córdoba, und das zu einer Zeit, in der Frauen als wenig mehr denn als Samenempfänger angesehen wurden. Das machte sie zu einer avantgardistischen Frau, doch trotz des ersten Eindrucks war sie dies keineswegs. Merkwürdigerweise glaubte sie, dass die Frau sich dem Mann unterordnen müsse, jeden Tag mehrfach zu beten und für das Wohl der Familie zu sorgen habe. Viele Male versuchte ich, dieser Widersprüchlichkeit auf den Grund zu gehen, aber wie mit der Frage nach der Inexistenz Gottes und der Verantwortung der Kirche für die von ihr begangenen Verbrechen, erhielt ich keine Antwort…

In ihrer Autobiographie erzählt meine Großmutter– wie in jeder Autobiographie zu erwarten ist – einige Anekdoten, die für ihr Leben bedeutsam werden sollten, das heißt, in in ihrem Fall bedeutsam für ihre Familie. Auf diese Weise erscheine ich als Kleinkind in einer Episode, in der ich ein Plakat mit einer hierauf abgedruckten Kuh betrachte, während mich meine Alte mit einem dieser unsäglichen Pürees füttert, die zu den wenigen Dingen gehören, die ein Zahnloser verdauen kann. Obwohl ich recht pummelig war, versuchten sie andauernd, mich zum Essen zu bringen. Aber ich beschwerte und weigerte mich jedes Mal solange, bis sie mich vor das bunte Plakat mit der Kuh setzten. Mein Fleischverlangen wurde dadurch entfesselt, und ich fantasierte, dass jeder mit Brei gefüllte Löffel Steak, Niere oder Eingeweide führe. Als guter Argentinier wuchs ich damit auf, eine Kuh zu betrachten, und heute verschlinge ich ihre köstlichen Stücke.

Die Jahre vergingen und ich trat in das Schulalter ein, in dem ich weder größere Erfolge noch große Schwierigkeiten vorweisen konnte. Ich ging schlicht zur Schule, und mit ein wenig Wohlwollen und einem Minimum an Anstrengung bestand ich Jahr für Jahr für Jahr für Jahr. Im Alter von 12 oder 13 Jahren begann ich, Gitarre spielen zu lernen und gründete bald eine Band mit dem Ziel, die neuen Serú Girán zu werden. Nach mehr als zwölf Jahren und vielen Bandgründungen stellte ich fest, dass ich niemals so wie sie das Innerste der Menschen würde berühren können. In dem Moment beschloss ich, es sein zu lassen und auf Reisen zu gehen, um einen neuen Traum zu finden.

Währenddessen begann und beendete ich ein Studium auf dieselbe Art und Weise wie die Grund- und Oberschule, schnell und ohne Probleme. Bereits im letzten Jahr der Oberschule empfahl mir ein Geschichtslehrer, den ich bewunderte, keine Sozialwissenschaften zu studieren, da ich ansonsten Hunger leiden würde. Wenn aber die Alternative war, nicht zu studieren und mit der Musik Hunger zu leiden, oder Hunger zu leiden, aber ein wenig gebildet zu sein, so fand ich es besser, diesen letzten Weg zu gehen. Also studierte ich mehrere Jahre bis die Universität entschied, dass ich nun genug gelernt hätte, um mich mit einer Lizenz zur Meinungsäußerung über das, was uns geschieht, auf die Straße zu entlassen. Es scheint absurd, aber im Gegensatz zu Ärzten, Ingenieuren oder Anwälten gibt es für uns, die wir uns mit den Problemen befassen sollen, die uns alle betreffen, kein Zulassungsverfahren. Sie überreichen uns einfach ein Zeugnis und los geht’s.

Mit Mitte Zwanzig und einem Diplom in der Tasche, zog ich um, reiste, verliebte und entliebte mich, betrank mich, nahm Drogen und begann, regelmäßig Gedichte zu schreiben. Tonnen von Gedichten auf Papierschnipseln oder dem Handy oder einem Blog oder irgendeinem anderen Ort, an dem es Worten erlaubt ist, neutrale Flächen zu schikanieren. Worte und Worte und Worte und Worte. Worte haben mir immer gefallen, auch wenn ich nie ein großer Leser oder ausdauernder Radiohörer gewesen bin. Vor allem rede ich gerne, ich bin buchstäblich das, was man einen Schwätzer nennt. Wie Borges und meine Großmutter sagten: Das Beste, was man im Leben tun kann, ist, einen guten Schwatz zu halten.

Wir Bewohner von Buenos Aires sind der Unterhaltung ganz besonders zugeneigt. Hier reden alle und sagen ihre Meinung, als sei es eine griechische Agora. Vom Pförtner eines Gebäudes bis zum letzten Fußballer haben sie alle etwas über die Regierung, die Kultur, die Gewohnheiten oder, aktueller, gar über Europa oder irgendeinen anderen fernen Ort zu sagen. Der globalisierte Bewohner von Buenos Aires ist fast eine Massenvernichtungswaffe. Nichtsdestotrotz und möglicherweise aufgrund des Wortexzesses erweist sich die Stadt als ein äußerst inspirierender Ort. Inmitten all der TV-Dummheit und TV-Wiederholung lassen sich einige, meist nächtlich-alkoholisierte Stimmen vernehmen, die etwas wahrhaft Tiefgründiges zu sagen haben. Seit nun einigen Jahren widme ich mich der Wiedergabe einiger dieser Stimmen aus meinem Bunker im Viertel „Barrio del Once“. Im Lärm der Autobusse, einiger höllischer Rennwägen, die genauso viel zerstören wie sie transportieren, umgeben vom flüchtigen Smog Buenos Aires’, den die Pampa des Nachts wegfegt, greife ich auf das geschriebene Wort zurück, um meinen Ideen Berechtigung zu verleihen.

Um den Faden dieser kurzen Autobiographie wieder aufzunehmen: Ich empfinde es als äußerst schwierig über mich selbst zu schreiben, wenn ich selber nicht so genau weiß, wer ich bin. Als Politologe war ich immer zu poetisch und ich verliebte mich in alles, was ein bestimmtes utopisches Potenzial beinhaltete. Ich kam vom Kommunismus zum Chavismus und vom Chavismus zum progressiven Peronismus unserer Regierung, ohne dabei irgendeine der anderen, inzwischen schon langlebigen Liebesbeziehungen vollständig aufzukündigen. Was mich jedoch immer am meisten an der Politik lockte war ihre Fähigkeit, kollektive Phantasien entstehen zu lassen, Mythen, Parallelwelten, die alleine durch die Tatsache lebendig zu werden scheinen, dass es viele sind, die um ihre Entstehung kämpfen. Als Chronist interessieren mich weniger die Detailfragen des Gerichts oder die schachartigen Strategien der Macht. Ich bin immer ein Beobachter gewesen, der Gefühle ernst nimmt. Ich weine bei Massenveranstaltungen, ich weine, wenn ich die Reden Allendes oder Fidels sehe, oder der Genossen, die heute den Kontinent regieren. Mich bewegen die Worte mehr als die Taten, die Farben mehr als die Parolen und viel mehr die Gesten der Menschen als die Flaggen.

Ich suche eine Art Gleichgewicht zwischen meiner emotionalen und kreativen Unruhe und der harten Realität, die uns umgibt. Ich strebe danach, möglichst genau das auszudrücken, was mich berührt, aber gleichzeitig einige Züge professioneller Exaktheit zu bewahren. Zudem habe ich das Glück, dass einige glauben, meine Worte könnten über den privaten Kreis hinaus Bedeutung haben und veröffentlichen meinen Unsinn in diversen Medien auf dem Kontinent. Das, was ich heute geschrieben habe, diese Mini-Biografie, entsprang meinen Fingern mit derselben Geschwindigkeit wie meine Ideen. Ich hoffe, eines Tages ein Gedächtnis wie meine Großmutter zu haben, um sie fortführen zu können.

Übersetzung: Marcela Knapp

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