Deutschland, 13. August 2011

Der Raum verengte sich. Allmählich wurde alles dicht gemacht. Bildbearbeitung, Dunkelkammer, Analogfotografie.

Habe ich ein Verhältnis zu dem Land, in dem ich geboren wurde, aufwuchs, lebe; – das ich nie länger verlassen habe als für vier Wochen? Und immer in der Nähe geblieben, nie aus Europa raus. Und als ich die Gelegenheit bekam, mich für ein anderes Land zu entscheiden, wollte ich nicht.

Schland und Zucker

„Das alles führte dazu, dass ich mich für den östlichen Teil Deutschlands entschied.“

Den ersten Tag der deutschen Einheit, den 3. Oktober 1990, habe ich in London, England, verbracht. Ich habe eine Nacht auf einer Parkbank geschlafen, irgendwo im Norden der Stadt, weil die Tube nicht mehr fuhr, und die Indie-Disko schon um 2 Uhr dicht gemacht hatte. Die erste Tube fuhr um halb sieben, half past six, und ich hatte mich um eine Stunde verschätzt, weil ich dachte half past six bedeute halb sechs.

Das Hotel erreichte ich dann gegen sieben.

Im Folgenden habe ich es fast in jedem Jahr geschafft, zum Tag der deutschen Einheit im Ausland zu sein. Republikflucht.

Später, im neuen Millenium, bin ich vom Rheinland nach Berlin gezogen, auch der Geschichte wegen. Faszination für die Hauptstadt, die einmal untergegangen war, und dann geteilt wurde, und im Osten wieder Hauptstadt war, bis die Mauer fiel, und Zwischenjahre vergingen, Zwischenjahre, die ich in Köln verbracht habe, der damaligen gefühlten Hauptstadt der rheinischen Republik, bis Berlin wieder zur Hauptstadt wurde, eine Hauptstadt mit Narben, mit Weite, mit Farben, und eine andere Hauptstadt als Paris, Rom, London, Madrid –

„Wir erklären uns solidarisch mit allen Bürgern, die nach 1990 für ihr verfassungsgemäßes Handeln zum Schutze der DDR von der Bundesrepublik Deutschland diskriminiert, kriminalisiert, verfolgt, bestraft und inhaftiert wurden und fordern ihre Rehabilitierung.“

Der 13. August 2011 ist ein Samstag. Morgens in der Bahn sitze ich zwei Teenie-Pärchen gegenüber. Die Mädchen auf dem Schoß der Jungen. Sie alle sind höchstens sechzehn (also in dem Alter, das sie für gewisse CDU-ler interessant werden lässt) und ich bin ob ihrer Unbefangenheit und Innigkeit sehr überrascht – das hatte es bei uns nicht gegeben, damals, als ich sechzehn war, da herrschte immer die Angst vor der Peinlichkeit, und der Bestimmung, und überhaupt die Angst vor dem Zwischengeschlechtlichen – damals, als die Mauer noch stand, 1987.

„Nun hatte der frühere US-Militärgouverneur in Deutschland, General Lucius D. Clay, der nach dem 13. August als persönlicher Vertreter des US-Präsidenten nach Westberlin geschickt worden war, verschiedene Attacken auf die Grenze veranlasst, und ich hatte vom Stadtkommandanten Helmut Poppe den Befehl erhalten, mich an der Friedrichstraße aufzuhalten und darauf hinzuwirken, dass keine größeren Provokationen stattfanden.“

1987, habe ich überlegt, wäre eigentlich eine Zeitreise wert. Ich würde mir Zettelchen schreiben mit Hinweisen, Ratschlägen –
Petra küssen, Michaela küssen, Stefanie küssen –
bestimmte Schallplatten zulegen –

1987, Gorbatschow, Helmut Kohl, Hanns-Dietrich Genscher –
Flohmärkte, Restbestände, alte Postkarten in Schwarzweiß, Fotografien von Garagendächern, Fotos von bunten Tapeten, von Männern und Frauen vor Bergen und Tälern, ich könnte ein anderer Mann geworden sein.

1987, eine Zeitreise, ich stelle mir Selbstbegegnungen vor, auch unter sexuellen Vorzeichen – „Hilfe, ich wurde von mir selbst missbraucht“, usw. – ganz à la „Die Wirkung ging der Ursache voraus“.

Das geteilte Deutschland, das eine und das andere Deutschland, ein Österreicher ist ein Deutscher mit Hut, in der Schweiz hat man eine Ablautreihe nicht mitgemacht, in Luxemburg wird alles zerkaut, in Belgien die Ostkantone, „etwas Besseres als die Nation“, nicht schwer eigentlich, das zu finden, und wie war das mit der Mauer, ist das nicht langsam mal egal, die Mauer ist doch auch von kommunistischer Seite von vorne herein ein Fehler gewesen, immer diese Defensiven, die dann auch noch offensiv und gleichsam beleidigt verteidigt werden mussten, müssen, und ausgerechnet heute macht eine der beiden Zeitungen, für die ich arbeite, mit einer missglückten Satire auf, „Danke für 28 Jahre ohne Kapitalismus“, kann man das so machen, nein, das kann man eigentlich nicht so machen, eigentlich nicht, nein.

„Die Idee, Deutschland gemeinsam mit den Russen regieren zu wollen, ist ein Wahn.“

Deutschland: Das Wetter ist bescheiden, wie im ganzen Sommer. Wir bekommen allmählich Angst. Das Wetter war immer schon ein Argument gegen dieses Land gewesen. Dieses Land war immer zu kalt, sonnenarm, winterfest, regnerisch und trübe gewesen, kein Vergleich zu den mediterranen Sommern, vier Monate lange Hitzeperioden – davon träumte ich, an diesem Nachmittag in der Übergangsjacke, von den tropischen Nächten, von denen es in diesem Sommer eine, höchstens zwei gegeben hatte; eine typisch deutsche Sehnsucht also tauchte auf, die Sehnsucht nach Wärme.

Ein Mann neben mir, alt, verhuscht, weite, hellbraune Cordhose, Pullover in verwaschenen Farben, darüber eine abgetragene, bleichschwarze Weste, liest sich laut die BZ vor. Ich schaue aus dem Fenster. Jemand hat Hammer und Sichel an eine Häuserwand gesprüht; es sieht aus wie ein umgedrehtes Euro-Zeichen.

PA oder Partei. Hinter jedem Vertrag steht die Polizei.
Fotolagen, Redaktionsschluss, Bebilderungsfragen, niemand nimmt sein Foto mit ins Bett.

„Besser ein zerstückeltes Deutschland, von dem wenigstens der westliche Teil als Prellbock für die Kräfte des Totalitarismus wirkt, als ein geeintes Deutschland, das diese Kräfte wieder bis an die Nordsee vorlässt.“

Im Fernsehen war zu hören, dass auch der Bevölkerungsrückgang für den Frieden in Europa seit 1945 sorgte, neben dem allgemeinen Wohlstand. Es herrschten Ruhe, Zufriedenheit, Platz. Kein Volk konnte sich ein Millionenheer leisten.

Ein Mann in Militärhosen besah sich einen Bogen zur Steuermeldung.
Keine Harmonie mit Nazis.

Abends als fünftes Rad zum Pärchenabendessen. Die Frauen zogen sich in die Küche zurück, um über Beziehungen zu reden, die Männer blieben am Esstisch und redeten über Musik.

Etwas Besseres als die Nation.

Zitate aus: junge Welt, 13. August 2011

Bisher 1 Kommentar zu 'Deutschland, 13. August 2011'

  1. Stefan sagt:

    „Die erste Tube fuhr um halb sieben“
    Die Story durfte sich der Eine oder Andere auch von mir anhören 😉 Und während Du schliefst habe ich todesmutig mein erstes Paar Doc Martens, mit Blasen an den Fersen, eingelaufen. Eingehumpelt.