Zentrum – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Peri-Feria http://superdemokraticos.com/themen/buchmesse/peri-feria/ http://superdemokraticos.com/themen/buchmesse/peri-feria/#comments Wed, 06 Oct 2010 17:51:37 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2616

Wir sind angekommen! Auf der Messe! Wir wohnen in einem kleinen Dorf außerhalb der Innenstadt und gehen jeden Morgen zu Fuß zur S-Bahn, eine Brücke führt über einen rauschenden Bach mit wilden Orchideen, die am Ufer wachsen, helle, warme Herbstluft, gepflügte Äcker, sogar ein Pferd ist morgens unterwegs.

Der Weg zur Messe. Herbst in Hessen.

Wir gehen „übers Feld“, wie unser netter Gastgeber Paul sagt. Paul liebt Bolivien und seine Wohnung ist bolivianischer als die eines Bolivianers, würde ich mal behaupten: Fotos der Flora und Fauna, die bolivanische Landesflagge, Collagen aus Biersortenlabels (Quilmes, Huari…), Messer in Lederscheiden. In seinem Regal stehen Bücher über Lateinamerika, ein Stadtplan seines Wohnorts dagegen nicht. Wo ist Bolivien, wo ist Frankfurt? Wie verorten wir uns heute,  in welchen imaginären Landschaften? Und ist nicht alles, was wir leben, auch wenn wir es nicht aufschreiben, Fiktion? Wir sind in jeder Minute die Autoren unseres eigenen Lebens – und welche Perspektive nehmen wir ein, eine Zentralperspektive oder eine vom Rand? Von der Peripherie?

Ich nenne die größte Buchmesse der Welt, die Feria de Libro, jetzt nur noch Peri-Feria del Mundo. Es präsentieren sich Verlage aus 111 Ländern: die meisten, 3.315 kommen logischerweise aus Deutschland, 97 aus dem Ehrengastland Argentinien, hier der Gesamtüberblick. Die gesamte Bücherwelt ist zwar in neun Hallen vereint, aber auch hier gibt es Hallen, die voll sind, Hallen, die leerer sind, sozusagen beliebte touristische Regionen und noch unentdeckte Orte, Ränder, leise Stimmen, Unsichtbares. Wir selbst schreiben vom Stand der Bundeszentrale für politische Bildung, Halle 3.1, H141, der Halle für „Fiction and Non-Fiction“ aus. Vom Nebenstand grinst eine Obama-Pappfigur herüber, von schräg blickt mich ein Weihnachtslied-Zitat an, ein christliches Magazin stellt sich vor. Gleich höre ich mir an, wie die MERCOSUR-Länderkulturell  zusammenarbeiten wollen, wie eine „auf Vielfalt, Toleranz und Multikulturalismus basierende Identität“ entstehen kann, organisiert vom brasilianischen Generalkonsulat. Das wahre Zentrum ist dein Zentrum der Aufmerksamkeit.

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Erleuchtende Spannungen http://superdemokraticos.com/themen/burger/erleuchtende-spannungen/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/erleuchtende-spannungen/#comments Sat, 21 Aug 2010 09:50:55 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1028

Blick aus dem Fenster. Foto: Agustín Calcagno

Der wesentlichste Aspekt des Wandels, den Lateinamerika in den letzten Jahren durchlebt hat, besteht darin, Licht auf die sozialen Spannungen geworfen zu haben, die zuvor im Halbdunkel lagen. Die vielfältigen und gefärbten Gesichter, die unseren Horizont bevölkern, Gesichter der Meere der Berge der Wälder der roten Kneipen am Rand des Abgrunds und in der Nähe des Himmels; diese unzählbaren Gesichter unseres Kontinents waren bis zu diesem Punkt in der Geschichte Gefangene eines monotonen Diskurses, der gedacht worden war, um das Vielfältige beschämend, unwürdig und wenig zivilisiert erscheinen zu lassen.

Die Mehrheiten und die Dinge, die der Großteil der Menschen denkt, fühlt und braucht, wurden in die Dunkelheit des Bettelns verbannt. Der Arme war es nicht würdig vom Besitz derselben Dinge zu träumen wie der Reiche. Der Arme musste auf seine Armut stolz sein, sich darüber freuen, ausreichend zum Überleben zu haben… Und dankbar sein… Als ob das Leben ein Geschenk des kreolischen Edelmuts sei, musste der Arme außerdem ein Indio sein und in der Konsequenz doppelte Gnade erhalten, da sie Gott empfangen hatten…den richtigen… Ein Gott, der unsere Dankbarkeit und unser schweigendes Lob braucht. Sie baten uns zu schweigen, ausgerechnet uns, die wir die lärmende Materie der Vielfalt, der heterogenen Landschaften, der ewigen, in jeder Ecke schwebenden Musik sind. Sie baten uns zu schweigen, uns, die wir die spanische Kultur anzunehmen und mit Talenten, mit verführerischen Akzenten, die in die verschiedensten Gesichtszüge eingeschrieben sind, zu füllten wussten. Schweigen, Akzeptanz, Monotonie, Scham.

Aber die Kraft des Blutes und der Erde ist mächtiger als die Herrschaft; und die offensichtliche Spannung zwischen einem monotonen, eurozentrischen Diskurs und unserer Vielfalt trat ans Licht. Manches Mal hervorgerufen durch tausende Stimmen, andere Male durch Geflüster. Noch so viele Male durch triumphierende Tränen der Revolution und viele andere durch totes Schluchzen, durch staubige Augen junger Körper. Das herrschende System, das dieses winzige Stück auf der Landkarte bewohnt und auf dem sich die Vorteile aller, die wir Sauerstoff atmen, konzentriert, lockerte sich. Sie hatten so lange darauf bestanden, uns davon zu überzeugen, dass die Ungleichheit unvermeidbar ist, dass sie selber begannen, ihren eigenen Diskurs zu schlucken. Sie gelangten zu dem Glauben, dass die Geschichte an eben jenem Punkt anhalten würde, der sich für sie als vorteilhaftester erwies. Sie waren Narzissten, die ihr Leben mit feuchter Eitelkeit verblendeten, und möglicherweise macht dies es ihnen heute schwer, ihre Köpfe aus dem Wasser zu ziehen.

Seit den Siegen der neuen populären Regierungen begannen die realen Spannungen unserer Gesellschaften in den Diskussionen, den politischen Disputen, im alltäglichen Leben aufzutauchen. Diese neuen Mächte richteten ihre Lichter auf die ausradierten Gebiete der sozialen Landkarte: auf diejenigen Gebiete, die von Armen, Ausgeschlossenen, in den Fokus der Justiz Geratenen, bewohnt werden, wie auch auf die ewigen Gebiete, die die koloniale Macht vor unseren Augen verborgen hat. Die neuen, lateinamerikanischen Regierungen hatten die Tugend der Erleuchtung – in allen Bedeutungen des Wortes. Auf der einen Seite entblößten sie die faktischen Mächte, die uns jahrhundertelang beherrscht haben; und parallel dazu zeigten sie auf, dass andere – inklusivere und abwechslungsreichere – Formen der Herrschaft sich in Gemeinsinn verwandeln können, in Macht.

So wie die sanften, braunen Körper in der Sonne mit dem harten Schritt derjenigen zusammenleben, die wir weiter im Süden das Feuer in trockenen Worten erforschen, so leben unsere Regierungen miteinander, obwohl sie verschiedene Ziele und Strategien verfolgen. Sie leben miteinander und werden bereichert, weil sie bemerkt haben, dass unsere Farbpalette groß ist. Das unterhaltsame, südamerikanische Geschrei, das des Volkes, das auf der Straße gesprochen wird, sucht Worte Begriffe, Ideen, die ihre Erwartungen und Vision der Vergangenheit beinhalten; die von ihrer eigenen, vielfarbigen Vergangenheit sprechen; nicht jene, die von einigen Büchern wiedergegeben werden, die von nur gen Norden schauenden Intellektuellen erwähnt werden; diese sind Filme, Strophen von Hymnen, vollbusige Lieder oder schwachsinnige diskursive Verrenkungen, die von Ökonomen in den Stein gehauen wurden.

Meinerseits erobere ich die Straße alleine oder in Begleitung vieler anderer, die die Verpflichtung verspüren, sich zu verteidigen, sich zu offenbaren, die dunklen Gebiete zu enthüllen. Die unterschiedlichsten Beweggründe motivieren uns, Forderungen, die kein Zentrum zu haben scheinen. In Wahrheit ist es so, dass uns das Bewusstsein eint, dass es kein einzelnes Zentrum geben soll… unsere Tugend ist gerade das Wissen darüber, dass Spannungen immer da sein werden, aber dass wir sie zunächst einmal beleuchten müssen, damit sich aus ihnen Forderungen herauskristallisieren, die die Welt gerechter machen.

Übersetzung: Marcela Knapp

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