Töchter – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Der Körper des Anderen http://superdemokraticos.com/themen/koerper/der-korper-des-anderen/ Thu, 12 Aug 2010 18:07:07 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=809 Mit 13 Jahren, nach einem stilistischen Debakel beim Fußball, entschloss ich mich, Boxer zu werden. Ich dachte – obwohl ich nie herausfinden werde, ob ich Recht hatte –, dass ich auf eine massive und mächtige Waffe zurückgreifen konnte, die meine Gegner nicht besaßen: Intelligenz, schnelle Auffassungsgabe. Auf einem Spielfeld ist es wichtig, die gegnerische Mannschaft zu lesen, aber die Hüfte, die Präzision des Tritts, die Kraft beim Sprung, die Schnelligkeit und die Füße am Ball sind fundamental. Also entschied ich mich für das dritte, das mir nach den Frauen am besten gefiel: das Kämpfen. Dazu benutzte ich das Beste, was die kleine Geographie meines Körper zu bieten hatte, nämlich mein Gehirn, um jeden zu besiegen, der es wagte, sich vor mir die Handschuhe anzuziehen.

Natürlich übte ich auch mit meinen Freunden. Wir haben uns jede Woche mit Fäusten windelweich geprügelt, und ich war gar nicht so schlecht darin. Ich genoss den Vorteil langer Arme und meine Fingerknöchel waren spitz. Damals zeichnete sich noch nicht die Kurve dieses Bauchmuskels ab, die heute herausragt und mich definiert, auch hatte mir meine Mutter mit einem Gesicht, das sogar Sugar Rey Leonard blass hätte werden lassen, erklärt, dass sie mir eher ein Motorrad kauften würde, um meinen Gehirntod durch einen Unfall zu beschleunigen, als mich boxen zu lassen.

Also ging ich nach Caracas um zu studieren, bis mir was anderes einfallen würde, und dabei fiel mir wieder mein Körper ein. Einem meiner besten Freunde wurde eine Tracht Prügel verpasst, weil er mich verteidigen wollte. Und in der Woche darauf, nach einem entsetzlichen Vorsprechen, entschied sich die Leiterin der Theatergruppe an der Universität, gemeinsam mit einer Reihe von Schauspiel-Laien, mich in das Ensemble aufzunehmen. Vier Jahre lang habe ich – erfolglos – versucht zu lernen, wie ich besser atmen könne, damit jedes meiner Organe eine Aufgabe erfüllt und ich die Emotionen nach meinem Willen steuern – und verarbeiten – kann, um Figuren und Situationen je nach Situation, angemessenen verkörpern zu können. Ich habe mich nie wieder geprügelt.

Wie das Leben nun mal so spielt, war meine Abschiedsrolle bei der Theatergruppe die gescheiterte Darstellung eines Boxers. Das Stück war eine Bühnenversion von Woody Allens Film „Geliebte Aphrodite“, das es niemals bis zur Aufführung schaffte, wobei ich mich an die Gründe heute nicht mehr erinnere. Es waren gerade mal sechs oder sieben Jahre vergangen, seitdem ich mich von meinem Traum, Säcke zu schlagen und Seil zu springen, verabschiedet hatte. In dieser Zeit hatte ich einige Dinge gelernt, über die Sprache und ihre Macht, über den Körper und seine Kraft, über meine Zukunft und einen neuen Gebrauch der Sprache und des Körpers, inklusive der Stimme, meine zwei Lieblingswerkzeuge. Dinge, die mich darüber nachdenken ließen, dass ich die Frauen – diejenigen, die ich zwar weniger als den Fußball, aber mehr als das Boxen mochte – nun näher und besser kennenlernen sollte. So, als ob es tatsächlich möglich wäre, die Emotionen meines Körpers zu steuern und zu projizieren, sie auch in anderen Menschen hervorrufen zu können.

Jetzt habe ich das Theater verlassen, und obwohl ich in der Lage bin mir einen Boxkampf bis zur letzten Runde anzusehen, meine Atmung zu beschleunigen und alles, ohne wetten zu müssen, habe ich nicht das geringste Interesse daran, mich einem Boxring zu nähern. Ich habe versucht, mir Yoga näher zu bringen, habe die Mediation ausprobiert und versucht, zum Fußball zurückzukehren, wie ein Amateur, der alleine sein Instrument spielt. Ich habe vor Tausenden von Menschen gesprochen, mit Dutzenden Frauen geschlafen, mich bei Verkehrsunfällen verletzt, bei Trinkunfällen, bei Unfällen aus Dummheit, ich bin kilometerweit gelaufen, um einen Ort besser kennenzulernen, ich habe in vielen Lokalitäten Salsa getanzt, und ich habe mich davon überzeugt, dass das Gehirn wichtig ist, aber dass der Körper in seiner Einheit schlussendlich das Fundamentale ist.

Trotzdem – und verzeiht mir die Kitschigkeit, aber die Ausarbeitung des Themas ist frei – ist es manchmal nicht möglich die Gefühle des Körpers zu steuern und zu verarbeiten. All das ging nicht, bis ich meine Tochter atmen sah. Ich starrte sie an, ein ums andere Mal, und mein Blick blieb an ihrem Bauch hängen, der sich wölbte und wieder flach wurde, so viele Male in jeder Minute. Da verstand ich die Macht, die der Körper, die Muskeln, das Blut, die Knochen haben und die Zartheit, die sie verbergen. Wenn ich das beschreibe, scheint es mir menschlich gesehen unmöglich, aber ich schwöre, dass ich deshalb einige Male weinen musste, etwas, das mir weder in den brutalsten Kämpfen, an denen ich teilgenommen habe, noch bei meinen besten Auftritten im Theater passiert ist.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Narben http://superdemokraticos.com/themen/koerper/narben/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/narben/#comments Thu, 29 Jul 2010 15:00:13 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=550 Es ist eine Sache ein Mann zu sein,
aber eine andere ist es, männlich zu sein.
“Vida” / „Leben“ von Ruben Blades

Ich bin Teil dieser unanzweifelbaren Statistik, die aussagt, dass 100 % der Menschen von Frauen geboren werden. Abgesehen von dieser skandalösen und offensichtlichen Gesamtheit befinde ich mich auf einem unergründbaren, aber evidenten Rang in Lateinamerika: Ich bin der Sohn einer alleinerziehenden Mutter. Das bedeutet, dass wenn ich zudem ein Macho und ein Egozentriker bin, die Schuld – oder die tugendhafte Verantwortung dafür – bei der Frau liegt, die mich erzogen hat. Dieselbe Frau, die mich geboren hat. Ein Schlüsselwort: Mode. Ich habe die Hälfte meines Lebens, eigentlich ein bisschen mehr, damit zugebracht, mir Gedanken über die gleichen Dinge zu machen: Fußball, die Nacht und ihre Partys, Domino und Frauen, im Plural. Mittlerweile mache ich mir auch Gedanken über die Sprache und die Fiktion, aber ich bin sicher, dabei handelt es sich nur um etwas Vorübergehendes, eines der kleineren Übel meiner Jugendzeit, das immer noch nicht vorbei ist.

Als ich klein war, habe ich immer versucht weiter zu spucken, höher zu springen, härter zu zuschlagen und schneller zu rennen als alle anderen. Das war einfach und lustig, ich bin die Risiken ohne Rücksicht auf die Narben eingegangen. Oder eher im Gegenteil: Jede Narbe bedeutete einen Punkt und für diese Punkte gab es Gefälligkeiten, ein Eis, Träume und meine eigene Legenden.

Die erste dieser Narben bekam ich, als ich laufen lernte. Ich blieb mit dem Mund an der Kante eines Nachttisches kleben und mit einem Ausrutscher verlor ich meine gute Laune und das Gedächtnis. Meine Mutter nahm mich in ihre Arme; den Rest erledigten ein Bonbon und zwei perfekte Nahtstiche.

Die zweite Narbe ist die beste: Sie sieht aus wie ein Skorpion, der auf dem Rücken liegt, und man kann sie sogar noch oberhalb meines Fußknöchels, am linken Bein, ertasten. Ich hatte mir beim Karneval die Haut an einer Blechdose aufgeschnitten und zwei Frauen, meine Mutter und ihre Freundin, fielen vor Schreck fast in Ohnmacht, als sie diese zähflüssige Mischung aus Blut und Fett sahen. Von da an war ich nicht mehr ein kleiner, dicker Vierjähriger, sondern ein kleiner, dicker Vierjähriger, der vor Stolz fast platzte.

Bevor ich zehn wurde, hab ich mir endlich die Stirn aufgeschlagen. Ich habe im Haus meines Onkels versucht, Schlittschuh zu laufen, barfuß, auf dem Wasser auf dem Boden. Die Pirouette, die ich zu Beginn anspruchsvoll drehen wollte, verwandelte sich gegen Ende in Übermut. Als ich den Kopf hob, um zu sehen welche Wertung mir die anderen Kinder geben würden, war ich überrascht von dem Entsetzen auf ihren Gesichtern: Das waren neun Stiche quer über meine Stirn, die meine Cousinen erfolglos mit Zärtlichkeit und Kerzen wieder heilen wollten, bevor sie es meiner Mutter über die Telefonleitung berichteten. Ihr Entsetzensschrei am anderen Ende, neun Autostunden entfernt, verstärkte nur, was ich bereits wusste. Mein Onkel nahm mich zur Seite und sagte mir im Vertrauen: Wenn du zwischen der Stirn und dem Kinn eine Narbe hast, mach dir keine Sorgen, streck die Brust raus: Jetzt bist du zum Mann geworden. Wenn man zwei Narben hat, so wie du, kann man du sogar ein vielversprechender Mann werden.

Meine letzte sichtbare Verletzung bekam ich am rechten Arm, jetzt bin ich ganz im Gleichgewicht. Das war bei einer Schlägerei, ich war gerade 12, na ja, fast 13. Der Streit begann, weil ich einen kleineren Jungen verteidigt hatte, um ein Mädchen, das zu Besuch war, zu beeindrucken – dasselbe Mädchen, das mir dann die tiefe sechs Zentimeter lange Schnittwunde mit Klopapier verband und mich nach Hause brachte, um meiner Mutter Bescheid zu sagen. Ich kam aus der Schlägerei mit der Aura des Tapferen, ein Held, verletzt in der Schlacht. Ich hatte das Gefühl mich selbst verwirklicht zu haben. Außerdem blieb mir ein Keloid, ein Begriff den man benutzt, um den sowieso schon geringfügigen ästhetischen Wert, den eine Narbe haben kann, auf etwas noch geringeres als eine groteske Anekdote zu reduzieren.

Seit diesem Moment begann ich, andere Dinge über das Mannsein zu lernen, die nur wenig mit Verletzungen und der anschließenden  – und manchmal unmittelbaren – weiblichen Pflege zu tun haben. Ich liebe die Frauen, genau wie Fußball, die Nacht, die Partys, das Domino und zeitweise die Literatur und ihre Satz-Fallen. Aber vor allem liebe ich es, aus zwei anderen Gründen Mann zu sein: Ich glaube, nur als Mann kann man das richtige Ausmaß der Kerbe in der Seele, die der Tod meiner Mutter, meiner alleinerziehenden Mutter, hinterlassen hat, wirklich schätzen. Und damit auch alles, was sie mir über die Bedeutung, die Wichtigkeit, den Wert und die Courage der Frauen beizubringen versucht hatte. Frauen sind so sensorisch, so intelligent, so sensibel, so zart, so stark und auch so verletzlich. Wenn ich eine Frau wäre, hätte ich nicht unbedingt weniger Narben, das stimmt schon, aber ich hätte sie sicherlich niemals genauso genossen und sie möglicherweise sogar versteckt.

Ich bin jemand, der denkt, dass mit jedem neuen Schmerz die Angst wieder auftaucht, und dass das Trauma, das durch den Tod meiner Mutter hervorgerufen wurde, nur durch eine andere Frau, meinen Tochter, geheilt werden konnte. Das ist der zweite Grund: Nach der Angst überkommt dich plötzlich die Freude, und deine Erinnerungen verändern sich. Natürlich verlor der Stolz über meine Narben mit der Zeit seinen Sinn und dieser Platz ist nun frei für die Neugier, die Metaphern, das Lernen und die Liebe, in all ihrer Vielfältigkeit.

Muttersein erlaubt dir…Woher soll ich wissen, was Muttersein dir erlaubt? Mannsein erlaubt dir, dich in deine Mutter und deine Tochter zu verlieben, falls du beide hast oder hattest. Das ist keine Kleinigkeit, und ich denke, dass es ein ausreichendes Motiv ist, mir dieses Leben, das mir ein männliches Bewusstsein zugeteilt hat, nicht entgehen zu lassen, bis ich in einem anderen, unwahrscheinlichen Leben Frau sein werde und mit Narben geboren werde, die mir die Geburten von jedem einzelnen meiner Kinder zufügen werden.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Mères et filles http://superdemokraticos.com/themen/koerper/meres-et-filles-red/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/meres-et-filles-red/#comments Fri, 23 Jul 2010 13:54:32 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=515

Filmhuis Zevenaar, Maandag 19 Juli 2010. Foto: René Hamann

Ein arbeitsloser Schauspieler. In einem französischen Spielfilm mit holländischen Untertiteln. Im Filmhaus. Mit Pausen zum Teetrinken. Zum Rollenwechseln. Die Liebe. Jeden Tag Fleisch. Die Geschichte, wie sie sich kennen gelernt haben. In einer Diskothek. Zum Abschied hat er sie gefragt, ob er sie wiedersehen dürfe. Ja, warum nicht, sagte sie. Und erzählte ihm gleich darauf, wie es um sie bestellt war, in welcher Situation sie steckte. Sie war noch verheiratet, aber ihr Mann war ausgezogen, sie haben ein gemeinsames Kind, eine Tochter. Ihr Mann sei fremdgegangen, immer wieder, mit immer anderen Frauen, sie habe aus Frust wieder angefangen zu rauchen. Wie er denn nach Hause komme, wollte sie wissen. Ich bin mit dem Bully hier, sagte er, einem umgebauten VW-Bus, dort wolle er sich erstmal hinlegen und morgen früh, wenn er wieder nüchtern sei, fahre er dann nach Hause. Sie hat gegrinst und ist am Morgen mit einem Frühstückspaket vor dem Bully erschienen und hat ihn wach geklopft. Da hat er gestaunt. Später hat sie seine Wohnung nach Utensilien anderer Frauen durchsucht, nach Spielsachen, Anzeichen für irgendwelche Kinder, aber es ließ sich nichts finden. Das überraschte sie. Er war ein Junggeselle, Anfang 40, keine Kinder, selbst Scheidungskind, wie sie. Wie ich übrigens auch. Vielleicht sollten wir Scheidungskinder unter uns bleiben, vielleicht funktioniert es dann.

Obwohl ich es schon merkwürdig gefunden hätte, mir kurz nach dem Kennenlernen ihre Geschichte anhören zu müssen. Und dass sie mit Frühstück auftaucht, wenige Stunden später, kann man romantisch oder charmant finden, aber auch bedrohlich. Jeden Tag Fleisch. Jeden Tag muss gegessen werden, von Esssucht redet da keiner; wer allerdings jeden Tag Liebe machen möchte, gilt schnell als sexsüchtig. Nicht, dass ich es wäre, nein, nein. Ich bin nikotinabhängig, höchstens. Ich habe meine erste Zigarette mit fast 18 erst geraucht.

Jedenfalls, eine Romanze ist eine Romanze, und es werden immer nur Romanzen begonnen. You wanna fuck her, make her love you, sagte der Padre zu seinem Sohn in The Sopranos. Ein arbeitsloser Schauspieler. In dem französischen Spielfilm sah es so aus, dass die Tochter eine männliche Bedienung eines kleinen Restaurants aufgabelte. Jeden Tag Fleisch. Für eine Nacht. Ich dachte darüber nach, ob das einfach nur ein dramatisches Mittel war, diese Aufrissszene, so wie der Mord an der Großmutter zum Schluss, ein Film, ein Buch, eine Handlung kann ja nicht mehr ohne einen Mord oder eine Liebesszene auskommen, geht ja nicht. Verdorben, ruiniert durch Filme. Ich dachte immer, das Leben wäre auch so oder sollte zumindest so sein. Letzteres denke ich immer noch. Wie ich denke, ich hätte eine Französin heiraten sollen, wie jene in dem Film, die von der Bedienung nach der Liebe gefragt wird, ob sie verheiratet sei, ob sie einen Mac hätte. Nein, nein. Die Szene bleibt einmalig. Allerdings ist sie schwanger.

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