Revolución – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 MaschinenMilchMüll http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/maschinenmilchmull/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/maschinenmilchmull/#comments Mon, 29 Aug 2011 07:00:40 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4965 nach Heiner Müller

Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.

Beschirmt von Edelstahl, Glasbeton, Hartz IV. Dahinter mein Ekel. Er ist ein Privileg. Ich bin ein Privilegierter, der ich die Zeit habe, diesen Essay zu schreiben. Wir haben 1989 unsere Revolution gehabt, auch wenn es eigentlich nur eine Konterrevolution war; jetzt macht ihr erst einmal eure eigene. In der Einsamkeit der Flughäfen atme ich auf. Ein Königreich für einen Mörder ist H&M. Gelächter aus toten Bäuchen. In Blut, Feigheit und Dummheit erstickt die Würde die Hoffnung der Generationen. Die erniedrigten Körper der Frauen. Alle ohne die Würde des Messers, des Schlagrings, der Faust. Kurzum: Armut ohne Würde. Ein zugebauter Alexanderplatz, damit sich ein 1989 nicht mehr wiederholt. Gesichter mit den Narben der Konsumschlacht. Ein Streitwagen, der von den Werbetafeln blitzt, geh ich durch Straßen, Discounter …, die nie ein Machthaber betritt. Der tägliche Ekel vom Kampf um die Posten, Stimmen, Bankkonten. Der tägliche Ekel in die Visagen der Macher gekerbt. Ekel haftet den Lügen an, die geglaubt werden. Den Lügen, die von den Lügnern kommen, von niemandem sonst. Die Lügen, die geglaubt werden. Denn dein, mein Ekel, ist das Nichts. Unseren täglichen Mord gib uns nicht mehr heute. Unseren täglichen Mord gib uns wie das Abschalten jetzt, sofort. Wie buchstabiert man „Gemütlichkeit“? Ekel haftet dem präparierten Geschwätz des Power-Point-Deutschs in den Radios an, die den 8- bis 12-Stunden-Arbeitstakt vorgeben, haftet dem verordneten Frohsinn der Fanmeilen an (in den USA meint Public Viewing die öffentliche Aufbahrung eines Toten). Ekel haftet dem Fernsehen an, dem Internet, das aus nichts als Spinnen und Fliegen besteht. Ekel haftet allem an, was da noch kommt.

Einig mit meinem ungeteilten Selbst gehe ich nach Hause und schlage die Zeit tot. Die ausgestopften Zombies in den Pornos bewegen keine Hand. In ihren Vaginen verfaulen die Penisse. Die sozialen Netzwerke sind das Alibi einer Generation, die zu feige ist, um das, was man Protest nennt, auf die Straße zu tragen. Die Dichter haben ihre Gesichter in den Benutzerprofils ihrer Benutzerkonten hochgeladen. Die Gedichtbände sind verloren gegangen. Wortschleim absondernd in meiner schalldichten Sprechblase, aufatmend hinter der Flügeltür, blutend in der Menge hat sich meine Lyrik nicht verkauft. Ich bin die Datenbank. Meine lyrischen Ichs sind Speichel und Spucknapf, Messer und Wunde, Zahn und Gurgel, Hals und Strick. Ich füttere mit meinen Daten die Computer. Ich bin mein Gefangener.

Aus dem Ruf nach mehr Freiheit wird der Schrei nach dem Sturz der Regierung. Auf dem Balkon eines Regierungsgebäudes ein Mann mit schlecht sitzendem Anzug, der so lange redet, bis ihn der erste Stein trifft und er sich ebenfalls hinter die Tür aus Panzerglas zurückziehen muss. Gruppen bilden sich, aus denen Redner aufsteigen. Wenn sich der Zug dem Regierungsviertel nähert, kommt er an einer Polizeiabsperrung zum Stehen. Einzelne Polizisten, wenn sie im Weg sind, werden an den Straßenrand gespült. Langsame Fahrt einer Handykamera durch eine Einbahnstraße auf einen unwiderruflichen Parkplatz zu, der von bewaffneten Fußgängern umstellt ist. Die Straße gehört den Fußgängern. Während der Arbeitszeit und entgegen der Straßenverkehrsordnung. Der Aufstand beginnt immer als Spaziergang. Meine Lyrik, wenn sie sich noch verkaufen würde, verkaufte sich in der Zeit des Aufstands. Auf den Sturz der Metaphern folgt nach einer angemessenen Zeit immer der Aufstand.

Ich bin nicht H&M. Ich kaufe dort nicht ein. Ich schreibe nicht mehr mit … Eine Lyrik, die auch mich nicht mehr interessiert. Um mich herum werden, ohne dass ich gefragt worden bin, die alten Fassaden hochgezogen. Von Leuten, die meine Lyrik noch nie interessiert hat, für Leute, die sie nie etwas angehen wird. Eine überalterte Gesellschaft hat sich nie dem Tod gestellt. Die Sehnsucht nach der Monarchie ist ein Stadtschloss.

Gekleidet in mein Blut gehe ich auf die Straße. Ich grabe die Uhr aus meiner Brust, die mein Herz war. Ich werfe meine Kleidung ins Feuer. Ich lege Feuer an mein Gefängnis.

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Ressource + Ressource + Ressource = Strömung http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/ressource-ressource-ressource-stromung/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/ressource-ressource-ressource-stromung/#comments Fri, 06 May 2011 04:45:57 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3772 Ich bin kürzlich aus Kairo zurück gekommen – von einer Recherche-Reise im Eigen-Auftrag.

Die ägyptische Revolution ist nicht über Nacht gekommen, auch wenn sie alle überrascht hat. „Die bringen die Menschen dazu zu kämpfen“ erzählt mir Farah Abdellatif, eine 23jährige Beatboxerin aus Kairo, als ich sie nach dem alten Regime frage. Und Nivin Samir, die seit 20 Jahren in der ägyptischen Linken aktiv ist, kommentiert den ägyptischen Umsturz: „Das war unsere Arbeit.“

Ich habe Aktivistinnen interviewt, die früher froh waren, wenn einem Demo-Aufruf 50 Menschen folgten – stets von einer hundertfachen Menge Polizisten umzingelt. Die für ihre Überzeugungen im Gefängnis saßen. Die sich in der Arbeiterbewegung engagieren, in feministischen Organisationen, im Aufbau unabhängiger Gewerkschaften.

Zwei intensive Wochen in Kairo haben mir bewusst gemacht, was mir in der deutschen „Verteidigungsgesellschaft“ abhanden gekommen war: die Erfahrung, dass sich hartnäckige politische Arbeit auszahlt, mit etwas historischem Glück. Dass das konsequente Handeln Einzelner, gezielte Kollaboration und der Einsatz von Herz und Hirn auch scheinbar aussichtslose Vorhaben ermöglichen.

Wer jemals die Kreativität erlebt hat und die Energie, die gemeinsames politisches Handeln auslöst, der versteht auch die Dynamik des Tahrir-Platzes, der zum Symbol der ägyptischen Revolution wurde. Der versteht den rapiden Verlust von Angst unter den Demonstranten, die Entschlossenheit und die Schönheit des Protests.

Sicher, ich romantisiere die Revolution.

Mir fällt ein: Wie wir vor gut zehn Jahren das Hausprojekt „Trillke-Gut“ in Hildesheim erhalten konnten. Fünfzig recht mittellose Studenten und Handwerker, die mit Ausdauer und Einfallsreichtum den konservativ regierten Stadtrat davon überzeugten, das prächtige Internatsgebäude fair an die schnell gegründete Genossenschaft zu verkaufen – und nicht an Investoren. Nun ist das Trillke-Gut in Selbstverwaltung ein etablierter Ort für politische und kulturelle Veranstaltungen, mit Kampfsportschule, Tonstudio, Ateliers, Musikschule und einem Blockheizkraftwerk im Keller. Ein Zuhause für 50 Erwachsene und 10 Kinder.

Mir fällt auf: Ich mache mir inzwischen weniger Gedanken darüber, wie ich meine Spuren verwische, die Datenspuren, die ich überall hinterlasse, und viel mehr Gedanken darüber, wie meine Spuren auf dieser Erde tiefer und länger werden.

Aus Kairo bin ich voller Energie zurück gekommen – auch wütend über mich selbst, weil ich den Glauben an politische Veränderung verloren, mich eher in ein ökologisch-bewusstes privates Leben zurückgezogen hatte.

Ich beackere mit Freundinnen einen Schrebergarten. Ich beziehe Öko-Strom. Ich esse Fleisch, das zuvor möglichst wenig gequält wurde. Das Bio-Gas ist abbestellt, seit ich erfahren habe, dass die Subvention von Biogasanlagen zur „Ver-Mais-ung“ ganzer Landstriche geführt hat – Mais-Monokultur statt Viehhaltung und Vielfalt.

Meine Energie, meine geistigen und körperlichen Ressourcen, möchte ich aber nicht darin verausgaben, individuell möglichst korrekt zu leben. Ich will nicht LOHAS-mäßig Luxus-Bio praktizieren und moralisch über LIDLALDINETTO schweben, wo sich – global betrachtet – die meisten Menschen einen Einkauf gar nicht leisten können.

Die Gestaltung von Nachhaltigkeit kann nicht von politisch-ökonomischen Zusammenhängen getrennt werden. Wichtiger als einen möglichst kleinen ökologischen Fußabdruck zu hinterlassen, ist es zu überlegen, welche Spuren wir überhaupt ziehen. Prägen wir unübersehbare Fußabdrücke oder berühren unsere Sohlen kaum realen Boden?

Ressourcen sind ungleich verteilt. Ressourcen bleiben nicht dort, wo sie sind. Lieber in Widersprüche verwickeln, als einen scheinbar geraden Pfad gehen. Im Labyrinth der Möglichkeiten nach neuen Ressourcen forschen.

Kollaborieren. Offen sein. Ich bin meine Ressource. Die Welt ist meine Ressource. Ich kann Ressource für andere sein. Ressource + Ressource + Ressource = Strömung. Hinterlasst Abdrücke und Spuren! Stoßt mit High Heels durch die gläsernen Decken patriarchaler Institutionen! Zeigt dem politischen Gegner die Schuhsohle! Strömt zusammen.

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Liebe Ägypter! http://superdemokraticos.com/themen/burger/liebe-agypter/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/liebe-agypter/#comments Wed, 16 Feb 2011 23:43:43 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3499 Ich habe vor kurzem einen besonderen jungen Mann kennengelernt. Am Brandenburger Tor in Berlin stand ein wütender Deutsch-Araber, der auf allen Berliner Demonstrationen zur Solidarität mit den Ägyptern Anti-Mubarak-Parolen ins Mikro rief, nein, besser schrie, wie ein Hiphopper ins Mikro, wie ein Shouter auf einem Fußballspiel: „Eins, zwei, drei, vier, Religion ist egal, Hand in Hand machen wir, was unser Herz uns befahl.“ Ramy Mostafa ging es um eine emotionale Politik, um seine „Familie aus 88 Millionen“ Ägyptern.

Ramy Mostafa auf einer Demo auf dem Pariser Platz, Berlin, 9. Februar 2011.

Der 18-jährige Schüler aus Neukölln, einem Berliner Stadtteil, das es meist nur wegen Arbeitslosigkeit, sozialem Elend, Jugendkriminalität, gescheiterter Integration in die Schlagzeilen schafft, hatte sich seine Haare zu einem Irokesen frisieren und das arabische Schriftzeichen für Ägypten rechts und links über die Ohren hineinrasieren lassen, damit man seine Wut auf Hosni Mubarak sehen würde, der Gewalt gegen diejenigen zugelassen hatte, die für ihre Freiheit und Rechte auf die Straße gingen. „Auf Deutsch war das Wort zu lang.“ Politisch korrekt ist er, der immer irgendwie zur Minderheit gehörte, als deutsch-arabischer Jugendlicher, der 10 Jahre in Ägypten aufwuchs. „Liebe Leute“, rief er, „liebe Nicht-Deutsche, liebe Nicht-Ägypter! Seid ihr bereit für die Show!?“ Jeden deutschen Demonstranten zählte Ramy doppelt: „Leute, die sich für so ein entferntes Land einsetzen, haben meinen gesamten Respekt verdient. Wir leben in Deutschland und ein Großteil des Publikums, Entschuldigung, der Demonstranten lebt in Deutschland. Ich bin selbst Deutscher und hab gelernt, jede Minderheit zu respektieren.“

Ramys in durchwachten Nächten selbst verfasste Reime waren leicht zu merken, daher gilt er nach den zwei Wochen, in denen er bei durchschnittlich sechs Veranstaltungen der Parolenrufer  war, als „Star“. Man grüßt ihn in den Dönerimbissen, bringt ihm Hustenbonbons mit und warnt ihn humorvoll, er solle sich an der Macht nicht berauschen, sonst würde er zu einem neuen Mubarak.

Die Gefahr ist allerdings gering: „Ich bin nicht politisch, ich bin menschlich“, sagt Ramy, als ich ihn in seiner Ein-Zimmer-Wohnung mit Boxsack und Wänden voller Fotos mit Freunden besuche. „Es ist nicht so, dass meine Texte besser sind als die der anderen, es ist auch eigentlich Nebensache, wer die Parolen schreit, ich bin nicht besonders gut in irgendwas, aber ich habe kein Problem voll und ganz bei einer Sache zu sein.“ Er wohnt seit ein paar Monaten hier, unterstützt vom Jobcenter, weil seine Mutter ihn dreimal rausgeschmissen hat. Ramy hatte bereits mit 12 Jahren einen Kulturschock, als er mit seiner deutschen Mutter und seinem Bruder von der nordägyptischen Wüste nach Berlin übersiedelte: Hier schienen nur Markenklamotten zu zählen. Aber die militärische schulische Erziehung samt Schlägen war vorbei. Er erzählt: „Die Gefühle von ägyptischen Kindern werden jeden Tag ziemlich kaputtgemacht. Die Kinder sollen von Geburt an daran gewöhnt werden, Draufgänger zu sein: für ihr Land draufzugehen, ein Soldat zu werden.“

Aber nicht nur Härte hat er in Ägypten erlebt, auch, was Armut heißt. Er erinnert sich daran, dass seine Tante, bei deren Familie er einige Zeit in Kairo lebte, einmal vor dem leeren Kühlschrank mit Tränen in den Augen stand. „Ich weiß nicht, was ich kochen soll“, sagte sie. „Wieso tun sich die Menschen immer nur in schwierigen Zeiten zusammen?“, fragt Ramy mich. Und er schenkt mir eine Tüte Kürbiskerne und eine Honigstange, echt ägyptisch, die er in einer Schrankschublade aufbewahrt.

Die ägyptische Revolution wird jetzt als „Facebook Revolution“ bezeichnet, weil viele Demo-Aufrufe zunächst über Facebook, insbesondere über den Account des Aktivisten und Google-Mitarbeiters Wael Ghonim liefen. Er war zu Beginn der Proteste verhaftet und zwölf Tage ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten worden. Als er nach zwölf Tagen freikam, gab er dem arabischen Sender Dream TV ein emotionales Interview, dass die Proteste weiter anfeuerte, inbesondere, weil er sehr so enttäuscht davon war, dass das Regime seine Familie nicht über seinen Verbleib informiert hatte. Vielleicht sollte man besser von einer Revolution von Menschen für Menschen sprechen, so wie der slowenische Philosoph Slavoj Žižek und der Oxforder Islamwissenschaftler Tariq Ramadan: Sie betonen das Universelle an den Protesten. Wer mag überhaupt von einer Facebook-Revolution sprechen, wenn das Netz mehr als fünf Tage lang durch die ägyptische Regierung gesperrt war? Wie die portugiesische Zeitung Publicó am 14. Februar schrieb: Die Dekade, die am 11.9.2001 anfing, ging am 11.2.2011 zu Ende. Die arabischen Bürger, oder Bald-Bürger, wenn sie in ein paar Monaten frei wählen dürfen, haben ein Jahrzehnt der globalen Stagnation beendet. Danke, liebe Ägypter!

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Familientauziehen http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/espanol-la-historia-no-es-un-sueno-eterno/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/espanol-la-historia-no-es-un-sueno-eterno/#comments Fri, 16 Jul 2010 08:00:37 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=460 Seit meinem fünften Lebensjahr besuchte ich jeden Sonntag meine Großmutter väterlicherseits. Meine Oma war an den Rollstuhl gefesselt. Mehrere Krankheiten hatten sie früh ihrer Jugend beraubt. Dieses Invalidendasein schien ihr einen inneren Frieden zu bescheren, welcher sich in einem scharfsichtigen historischen Sinn äußerte. Eine zu früh gealterte Frau als Speicher für das kollektive Gedächtnis. Jeden Sonntag also, nach dem Mittagessen, erzählte sie mir punktgenau ein Kapitel der bolivianischen Geschichte. Auf diese Weise versuchte sie, dem Einfluss entgegenzuwirken, den ich im Hause meiner Großmutter mütterlicherseits ausgesetzt war, wo ich von Montag bis Samstag wohnte. Dort waren sie flammende Anhänger der MNR (lange wichtigste Partei des Landes; in den 1940/50er Jahren linksgerichtete, nationalrevolutionäre später dann neoliberale Orientierung, Anm.d.Ü.). Meine Oma väterlicherseits erzählte mir von der Familie Barrientos und der Nationalgeschichte. Ihre Erzählung glich einem Spionagefilm. Wer die Guten und wer die Bösen waren, war für mich schwer zu durchschauen. Die Geschichten waren voller Mikrogeschichten. Sie erzählte mir von den Überstülpungen der Revolution von 1952, vom Leben ihres Vaters in den Minen, vom geheimen dekadenten Leben des Präsidenten Víctor Paz Estenssoro, genannt der„Affe“, vom inneren Exil meines Großvaters, der Mitglied der faschistischen Falange in Bolivien war, vom Tod meines Onkels bei einem Flugzeugabsturz direkt vor der Haustür, von dem anderen Onkel (dem berühmteren), der Paz Estenssoro gestürzt hatte.

Ich kam jedes Mal verwirrt und misstrauisch wieder im mütterlichen Zuhause an, und dort kontrastierten sie die Erzählung mit anderen Beweisstücken: die unübersehbaren Errungenschaften der Revolution von 52 (Nationalisierung der Minen und die Landreform, zum Beispiel), die manipulative Amtsführung von Barrientos als Präsident, der lange Protagonismus der MNR in der nationalen Politik als Beweis ihres Erfolgs.

Beide widerstreitende Erzählungen formten nach und nach meine Identität. Mit der Zeit habe ich dann selber die Erzählung unter Zurhilfenahme von Büchern und Lehrern neu zusammen gesetzt. Ich bin zu der Einsicht gelangt, dass die Geschichte ein Prozess ist und keine Abfolge von historischen Ereignissen und schroffen Brüchen. Die Revolution von 1952 kann aus heutiger Sicht kritisiert und als unzureichend eingestuft werden, als eine Zeit voller Widersprüche. Doch zugleich wäre nichts von dem, was wir heute erleben, ohne diesen Prozess möglich gewesen. Nicht zuletzt die Revolution selber, die aus den indigenen Revolten hervorging, welche im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzten und bis in 1940er Jahre anhielten. Diese wiederum kündigten sich seit den Aufständen der Tupcas am Ende des 18. Jahrhunderts an. Tupac Katari und Tupac Amaru II waren zwei der wichtigsten indigenen Rebellen während der spanischen Kolonialzeit, sie umzingelten La Paz zweimal, 1750 und 1781.

Es gibt keine Stunde Null und kein Ende der Geschichte. Ich habe auch gelernt, dass die Geschichte nicht allein in den Geschichts- und Schulbüchern präzise beschrieben ist, sondern auch in den Liedern und in der Stimme unserer geliebten Mitmenschen.

Übersetzung: Anne Becker

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Jede Generation muss ihre eigene Geschichte schreiben! http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/jede-generation-muss-ihre-eigene-geschichte-schreiben/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/jede-generation-muss-ihre-eigene-geschichte-schreiben/#comments Wed, 07 Jul 2010 06:18:03 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=420 Mit einer Kindheit, vergossen in den 80ern, begann eine Generation im Leben herumzustreifen, die sich von dem offiziellen politischen Diskurs trennte. Unsere Jugend verbrachten wir zwischen Losungen aus „Panamericano y Pa`lante“ und Elian. In der Schule berichteten sie uns von den Gräueltaten des Imperialismus und von der Manipulation der Medien durch diese Herren. Sie erzählten uns, wie gut es uns ginge und wie schlecht die Welt wäre. Durch die Verse von Martí, Neruda und Vallejo sahen wir die Realität einer Welt, die wir – so trichterten diese uns ein – verändern könnten.

Uns wurde beigebracht, das Offensichtliche anzuzweifeln, misstrauisch zu sein: Der Feind kann an jeder Ecke lauern. Caupolicán und die haitianische Revolution waren die Fakten, die uns das wunderbar Wirkliche aufzeigten, die zauberhafte Überraschung, im Alltag die wahren Heldentaten der Unterdrückten zu entdecken. Die Revolution wurde uns als historische Fortsetzung des Freiheitskampfs der kubanischen Bevölkerung präsentiert. Aus einer schwarz-weiß-malenden und vereinfachenden Position heraus wurde die Essenz der Revolution auf den Kampf gegen den nordamerikanischen Imperialismus reduziert. In jenen Momenten schien die Geschichte ein Synonym für Gedächtnis zu sein. Wir haben gelernt, uns daran zu erinnern, was die Position der Regierung legitimiert.

Nur als wir versuchten, das, was sie uns erzählten, in die Praxis umzusetzen, als wir es mit eigenen Augen sehen wollten, als wir unmittelbare Akteure in unserem Leben sein wollten, da haben wir entdeckt, dass wir zu den Unterdrückten gehörten.
In der Pyramide der kubanischen Politik war die Opposition verboten, es gab nur eine einzige wahre Meinung und diese wurde von einer Person vorgegeben: dem Máximo Líder, der Personifizierung der Revolution.
Wieso? Man muss stark gegen den gemeinsamen Feind, den Yankee-Imperialismus sein. Es ist nur so, dass der Kubaner meiner Generation zu bemerken begann, dass der Gegner nicht nur derjenige aus den Losungen der Regierung war, sondern auch der Staat selbst, der uns ohne Stimme und ohne Raum ließ. Uns wurde bewusst, dass die Medien nicht nur von den Herren aus dem Norden manipuliert werden, sondern auch von den compañeros aus der Nachbarschaft. Die Wahrheit, die uns eingetrichtert wurde, war so von ihnen geprägt, dass dafür in einer Generation von Kubanern, wie wir sie waren, kein Platz mehr war. Unsere Generation wuchs in einem demagogischen politischen Diskurs auf, der seinen Bürgern weder etwas zu Essen gab, noch ihnen Optionen für ein würdevolles Leben eröffnete. Ein Diskurs, der von der Rhetorik lebt und die Bürger zu Hilfsarbeitern einer schizophrenen Politik macht, in dem alles von oben herabdiktiert wird.

Diese neue Dimension der Realität zu sehen, ließ viele erblinden. Der Feind hörte auf, offensichtlich zu sein, er verlor seine Personifizierung; er war nun nicht mehr 144 Kilometer entfernt, sondern zwischen uns. Die Person, die ihn verkörperte war nun derjenige, der früher behauptete, eine Revolution des Volks und für das Volk gemacht zu haben. Das Paradoxe daran ist, dass sich die Veränderungen verstärkend auf die Konzentration der Macht auf eine Person auswirkte, eine Macht, die eigentlich von allen ausgeübt werden sollte. Dieser Mann, der glaubte alles zu sein, wird nicht von der Geschichte freigesprochen werden, wie er es zu seiner Verteidigung behauptet hatte, denn er hat sich in dem Wirrwarr seiner Machtausübung verloren. Aber er ist nur die Verkörperung – das System, das dahinter steht, ist viel komplexer. Der Beweis dafür ist es, dass das System immer noch weiter humpelt, obwohl er nicht mehr „da“ ist.

Wenn man über all dies nachdenkt, stellt man fest, dass die Geschichte nun nicht mehr nur aus Gedächnistraining besteht. Es geht nun nicht mehr darum, sich an die Entdeckung Amerikas zu erinnern, sondern vielmehr, sich darüber bewusst zu sein, dass die Konstruktion dieser historischen Ereignisse die Machtbeziehungen widerspiegelt. Wenn die Spanier von den Azteken und Inkas besiegt worden wären, wäre es nicht zur Entdeckung Amerikas gekommen. Das Geschichtsverständnis, das auf reinen Tatsachen beruht und es verpasst, die dynamische Dimension zu begreifen, die sich durch die Wechselwirkungen zwischen dem Subjekt der Geschichte und der Geschichte selbst zeigt, vermochte es nicht, mir meine Realität begreiflich zu machen. Genau deswegen will ich nicht, dass irgendwer mir die Geschichte erzählt. Denn letztendlich können wir sie selber machen.

Die Konstruktion der Geschichte ist nicht von der soziopolitischen Konstitution gesellschaftlicher Gruppen zu trennen, welche wiederum die Geschichte als wahr legitimieren. Genau deswegen handelt es sich bei ihrer Niederschrift nicht um eine rein akademische, sondern auch um eine praktische Aufgabe, die im Kern eine Frage der kulturellen Hegemonie ist und unauflöslich mit politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen verknüpft ist. Die Geschichte – egal ob mündlich oder schriftlich – ist keine reine Vermittlung von Wissen, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, sie ist auch der Moment der Entstehung neuer historischer Subjekte und ihres sozialen Imaginären, von dem ausgehend die Subjekte ihre Identität konstruieren. Die Aneignung der Geschichte beinhaltet demzufolge notwendigerweise die Kritik an dem empfangenen Erbe. Denn wir fehlten in der Geschichte, die uns beigebracht wurde. Sie dient uns dazu, die Notwenigkeit zu verstehen, sie neu zu schreiben. Damit wir nicht aus dem Blick verlieren, dass in den Jagdbüchern immer nur die Jäger verherrlicht werden, solange die Löwen noch nicht ihre eigenen Geschichtsschreiber haben.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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