Reise – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Unser Ausland http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/unser-ausland/ Wed, 06 Jul 2011 11:35:40 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4259 Europäische Reisefreiheit: ja. Reisefreiheit der anderen nach Europa: nein. Welche Grenzen trennen uns eigentlich?

Unter dem Autodach aufgeheizte Luft. Knisternd eingestellte Radiomusik. Noch erinnere ich mich an die Autoschlangen vor Italien und an das Warten auf die Kontrolle vor dem Einlass in die ehemalige DDR, an den staubigen Geruch der Autopolster, der die Ahnung eines Endpunktes begleitete. Das war knapp. Ein wenig jünger, und ich wäre nicht mehr an diese Erinnerung herangekommen, für mich hätte es ein Europa gegeben, dessen Offenheit dort aufhört, wo man gar nicht hin will, einer Welt, deren strengste Begrenzung für uns Westeuropäer in den Flugpreisen liegt. Die Vorstellung von einer Grenze, die wie gewaltige, vom Himmel herab hängende Stahlfalten zwei Länder voneinander teilt, ist mir nicht mehr vertraut.

Der Begriff der Grenze scheint schwebend geworden zu sein. In vielen Bereichen, von der Kriegsführung über Unternehmensstandorte bis hin zu unserem eigenen Erleben haben wir es nicht mehr mit klar umrissenen Gebieten zu tun, sondern mit wandernden Punkten, die mal hier, mal dort auftauchen, sich aber weder lange noch eindeutig auf ein bestimmtes Territorium festlegen lassen. Das Ausland gehört uns, wir kaufen dort ein, auch wenn wir scheinbar nur um die Ecke zu Lidl gehen, wir erholen uns dort, wir buchen uns den Sommer, wenn in Westeuropa gerade Winter ist, wir haben unsere Kriege dorthin ausgelagert. Es sind keine Kolonien mehr, sondern wir haben das Ausland gänzlich absorbiert, eingespannt für unsere Belange. Die Unterscheidung zwischen In- und Ausland macht noch insoweit Sinn, als dass alles, was angenehm ist minus das Wetter, Inland bedeutet und alles, was hässlich, giftig, gefährlich, unangenehm ist mit Ausnahme des Wetters, Ausland meint.

Noch immer gibt es gewaltsame Streitigkeiten um den exakten Verlauf von Grenzen, doch diesen Teil des Auslands haben wir nicht gebucht, er bleibt unserer Doppelhaushälfte so fern, dass es uns wie ein Gerücht vorkommt mit fraglichem Wirklichkeitswert. Allerdings, selbst in der EU kommen die Grenzen scheinbar unerwartet laut wieder ins Gespräch. Das Schengener Abkommen verändert sein Gesicht oder irgendjemand malt ihm einen falschen Schnurbart an, färbt ihm die Haare und erinnert daran, dass Schengen und Schergen nur einen Buchstaben voneinander entfernt liegen. Durchaus, wir haben die europäische Reisefreiheit geschätzt, aber bitte, wenn die Italiener uns all die Flüchtlinge in den Vorgarten kippen, na, hören Sie, dann müssen wir den Vorgartenzaun eben doch wieder höher ziehen.

Er hat Bedeutung, der Begriff der Grenze, und die Grenzen selbst sind wie Stahlfalten, in denen sich einige bedauernswerte Gestalten verfangen und verloren gehen. Wir bedauern sie nicht, wie bekommen wenig von ihnen mit. Wie die Grenzen in den Herzkranzgefäßen, die mehr ein Ventil als eine Mauer sind: Von innen kommt man raus, aber von draußen kommt man nicht rein. Nun sind unsere Grenzen noch perfider als ein gewöhnliches Ventil, denn sie erkennen auch in dem, der hinaus gereist ist, den zum Inneren Gehörenden wieder, auch in dem, der bereits drinnen ist, registrieren sie, dass er eigentlich nach draußen gehört, sie wechseln ihre Pumprichtung von Fall zu Fall. Natürlich nicht willkürlich, nein, unsere Grenzen sind korrekt und reglementiert und jedem von uns ist ein Erkennungsmerkmal eingepflanzt, das uns zu einem Drinnling oder einem Draußling macht. Bei manchen Menschen, bei denen dies zu hoch eingestellt ist, gibt es einen hässlichen Rückkopplungston, wenn eine Drinnen-Frequenz auf eine Draußen-Frequenz stößt.

Unsere Grenzen. Sie gehören uns, wie uns das Ausland gehört, und wir bestimmen, was sie können, was sie bewirken, für wen sie gelten. Wir selbst nehmen uns zwei Wochen Thailand oder Chile im Jahr, wir haben uns einen Teil Asiens als Industriepark gepachtet, die hässlichen, Gift schleudernden Fabriken ausgelagert, den versmogten Himmel, die schlechten Löhne und die meisten Risiken, die eine Hochindustrie mit sich bringt. Bisweilen kommt es mir vor, als wäre Westeuropa ein kleines Wunderland, wie es einst das Anwesen der Krupps war – Natur, Idylle, Rosenstöcke, alles von einem weichen Wald umgeben, und unten, im Tal, das wir gar nicht sehen können, weil eine dichte Dunstwolke uns vom Rest der Welt trennt, dort unten muss es hässlich zugehen, aber wir wissen es nicht so genau.

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Ich lese, damit mir die Dinge von Bedeutung sind http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/ich-lese-damit-mir-die-dinge-von-bedeutung-sind/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/ich-lese-damit-mir-die-dinge-von-bedeutung-sind/#comments Wed, 29 Sep 2010 07:00:34 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2278 Es gibt Tage, an denen mir alles erdrückend und sinnlos erscheint. Dann sind mir nur noch der Kaffee, das Essen, der Mantel und der Zug von Bedeutung, der in der Ferne vorbei fährt, ohne dass ich darüber nachdenke, wer vorbeifährt, wer die Fenster bewohnt, hinter ihnen leidet oder lacht. Ich erliege der Versuchung, dass mir alles egal ist, ich zucke mit den Schultern und denke an verrückte Dinge. An solchen Tagen schreibe ich nicht, sondern lese David Foster Wallace.

DFW, wie wir ihn unter Freunden in Korrespondenzen voller Referenzen und Vermerken nennen, forderte im September 2008 den Tod heraus. Einen Monat später brachte sich ein Jugendfreund auf dieselbe Weise um. Ich erinnere mich daran, wie ich den langen, harten und verpflichtenden Artikel in der Rolling Stone lese, auf dem Hinflug weinte und auf dem Rückflug zerstört war durch den Tod eines Teils meines Lebens. Trotz meiner lähmenden Angst vor dem Fliegen waren dies die beruhigendsten Flüge, weil mir bewusst wurde, dass es viel schlimmere Dinge gibt als den freien Fall aus 3.000 Fuß Flughöhe.

Möglicherweise wird meine Beziehung zu DFW immer diese traurige Seite haben, dunkel und depressiv, ergeben und verzweifelt. Die schlecht erleuchteten Salons, wo wir Alkoholiker schiefe Behauptungen wiederholen, die paranoiden Einsamen, die mit geschlossenen Fenstern leben, mit jenen brutalen Formen, mit denen wir uns selbst zerstören. Aber nicht nur für mich, sondern für einige Menschen, die ich kenne, sind seine Essays und Romane brillante Quellen der Inspiration, eine Landkarte, um die nordamerikanische Erfahrung zu verstehen, und vor allen Dingen eine Mahnung, warum uns die Dinge von Bedeutung sein sollten.

2009 las ich Infinite Jest (Unendlicher Spaß), ein überdimensionales Buch, das ich voller Energie durch die Straßen von Amsterdam schleppte. Anstatt mit Menschen zu interagieren, versenkte ich mich darin, eine Ersatzhandlung. Eine Touristin, die, indem sie sich sich einem so schweren, unbequemen Buch auszusetzen, sagt: Liebes Amsterdam, ich mag deine Cafés, aber ich bin mehr daran interessiert zu erfahren, was in einer imaginären Tennisschule an der Ostküste der Vereinigten Staaten geschieht. Ich liebte jede der 1079 Seiten, jede gewundene Fußnote, jede düstere Referenz, jedes unverständliche geometrische Diagramm. Ein Spiegel jedes Menschen, mit dem ich nicht sprach.

Ich fühlte mich nicht schlecht. Bei diesem Zusammentreffen, jenem im Flugzeug, hatte ich gelernt, dass Schüchternheit im Prinzip bedeutet, so „self-absorbed“ zu sein, so sehr mit den eigenen Belangen und Gedanken beschäftigt zu sein, dass es sich schwierig gestaltet, mit anderen Menschen zu sein.

David Foster Wallace hat mich das alles mit seiner leichtfertigen Didaktik gelehrt, mit seiner Fähigkeit, Dinge, die man lieber nicht wissen würde, detailliert zu zeigen. Einer seiner meist-zitierten Texte ist seine Antrittsrede vor einer Klasse am Kenyon College im Jahr 2005, der einzige Text, den ich jenen empfehle, die sich nicht mit Problemen beschäftigen möchten. In dieser Rede sagte DFW, dass nur jene Art von Freiheit wirklich von Bedeutung ist, die Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Disziplin, Anstrengung und die Fähigkeit, sich um andere Menschen zu kümmern und sie zu mögen, einfordert, sowie die Bereitschaft, sich für sie ein ums andere Mal und jeden Tag auf’s Neue in einer Vielfalt von trivialen, kleinen und unsexy Formen zu opfern.

Er zeigte mir auch, dass postmoderne Ironie und Zynismus weder beim Schreiben, noch beim Sprechen noch bei sonst etwas notwendigerweise gute Politik sind. Dass sie ein selbstbezogenes Ziel sind, eine Art und Weise, ein cooler und schlauer Autor zu sein. Dass Ironie und der Zynismus Möglichkeiten waren, auf die Dinge hinzuweisen, die nicht waren, was sie vorgaben zu sein, die Gesellschaftsmodelle der 50er und 60er Jahre zu verurteilen. Aber was tun wir, nachdem wir sie verurteilt haben, nachdem wir die Dinge zur Mitte hin geöffnet haben und ihren wahren Inhalt gezeigt haben?

Ohne Zynismus zu schreiben, macht jeden Tag Arbeit, so wie das Bügeln der Bluse der Schuluniform, wie auch das sorgfältige Putzen der hinteren Zähne. Die Übung, für die Superdemokraten zu schreiben, war Teil dieser methodischen Anstrengung, die Aufrichtigkeit zu praktizieren, auch wenn sie uns nackt und einsam zurück lässt mit dem ehrlichen Versuch, die Dinge zu ändern.

Ich werde diese Artikel aufbewahren, um mich wieder zu lesen, um zu sehen, wie ich in dieser Epoche der Mysterien war. Im Moment fühle ich mich nicht als Bürgerin irgendeines Ortes, nicht besonders eingebunden in irgendeine gesellschaftliche Angelegenheit und nicht einmal besonders nah bei mir selber. Ich gehe blind und bin nicht alleine, wir sind viele, die wir den Boden ausmessen und die Spuren suchen, die uns dorthin gebracht haben, wo wir sind. Unglücklicherweise geht mir die endliche Quelle von Material aus, das einst David Foster Wallace schrieb oder das jemand anderes über ihn schrieb. Vielleicht, wenn ich aufgehört habe zu lesen, habe ich meinen exakten Ort der Normalität der Tage gefunden und kann dem Zug in der Ferne vorbeifahren sehen, aber diesmal, ja, diesmal winke ich mit der Hand zum Abschied.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Es war einmal eine Globalisierung http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/es-war-einmal-eine-globalisierung/ Tue, 28 Sep 2010 06:48:30 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2220 -Wenn ihr es erlaubt, erzähl ich euch eine Geschichte, so wie sie mir erzählt wurde. Es war einmal ein junger Mann, der lebte in einer sehr großen Stadt. Es war im Jahr 2010. Er wurde auf der Insel geboren, die im dem Gedicht „La Isla en Peso“ von Virgilio Piñeira beschrieben wird, das ich euch sehr empfehle. Dieser junge Mann war wie unser Morus, dem es gefiel zu reisen, er wollte wissen, ob die Welt Grenzen habe und welche es wären. Als er das Alter dazu erreicht hatte, ging er in ein anderes Land. (Einige von euch werden sich nun fragen, was ein Land war, andere haben dies bereits im Unterricht von Poulantzas gelernt. Gut, ich werde euch nicht die Gelegenheit nehmen, Nachforschungen zu diesem Thema anzustellen.) In jener Zeit hatten die Menschen Artefakte erfunden, die es einfacher erschienen ließen, sich von einem Ort an einem anderen zu bewegen. Das war, in den meisten Fällen, für die überwiegende Mehrheit der Männer und Frauen, die den Planeten bewohnten, extrem schwierig, denn um von einem Ort zu einem anderen zu gelangen, benötigte man eine Erlaubnis von den zuständigen Behörden. Diese Autorisierung wurde in Form eines Zettels erteilt, der für die Person, die verreisen wollte, in einer anderen Sache, die man Pass nannte, abgestempelt wurde. Bei Letzterem handelte es sich um ein Heft, das dazu diente, sich auszuweisen. Dieser junge Mann arbeitete hart, um die Erlaubnis zum Reisen zu erlangen, denn er hatte den Fehler begangen, im falschen Land auf die Welt zu kommen. Dazu kam, dass die Menschen in jener Zeit unter dem Joch des Geldes lebten, Geld, dieser unbeschreibliche Geselle, der zwischen den meisten menschlichen Beziehungen vermittelt.

Kommen wir zu unserem jungen Mann zurück. Nachts arbeitete er in einer Bar, tagsüber ging er in die Universität, er schrieb Essays und literarische Texte für die ein oder andere Zeitschrift oder für Projekte. Sein Leben verlief zwischen diesen alltäglichen Aufgaben.

Dieser junge Mann, lasst ihn uns Aukera nennen, verbrachte viel Zeit damit, mit all seinen Freunden zu reden, die über den gesamten Erdball verstreut waren. Seine Kumpels sprachen unterschiedliche Sprachen und kamen an verschiedenen Orten zur Welt. Fast alle von ihnen hatten ebenfalls nicht den richtigen Pass, um sich in jener Welt fortbewegen zu dürfen.

Einige Freunde von Aukera spielten Theater, andere machten Musik, andere schrieben Poesie und machten Filme, andere arbeiteten mit Behinderten, kochten oder renovierten alten Häuser. Wieder andere hatten keine Arbeit und verbrachten viel Zeit damit, im Kreis zu laufen. Einer von ihnen lebte in einem sehr, sehr kleinen Dorf in einem Land im Süden. Er hieß Ezintasuna und spielte Theater für Kinder. Ezintasuna war sehr erschöpft und wollte in ein Land des Nordens gehen, aber die Erlaubnis zum Reisen war sehr schwer zu bekommen.

Foto: Lazaro Emilio Hernandez Boffill

Er glaubte nicht daran, dass seine Arbeit funktionierte, denn die Botschaft der Freude und die Möglichkeiten, die das Marionettenspiel bat, kamen bei den Kindern nicht an. Diese unterlagen einem sehr starken Einfluss von Gewalt. Die Mehrheit dieser Kinder lebte auf der Straße und konsumierte Drogen statt Nahrung, um ihren Hunger zu stillen. Andere waren verkauft und zur Prostitution gezwungen worden. Um sich zu verteidigen, hatten sie sich zu Gangs zusammengeschlossen. Eines Tages, nach einem Auftritt, näherte sich eines dieser Kinder schüchtern und sagte zu Ezimtasuna:

– Entschuldigung, darf ich Sie etwas fragen?

– Ja natürlich!-antwortete Ezintasuna.

-Sagen Sie, wie schaff ich es, in die Welt der Marionetten zu kommen, in der alles gut ausgeht?

Ezintasuna war sprachlos. Mit zugeschnürtem Hals sagte er zu ihm:

Zuerst musst du sie erschaffen, und dann, ganz langsam, wirst du in ihre Welt eintreten können, genau wie sie in deine.

Der Junge begann die Gruppe der Marionettenspieler zu begleiten und mit der Zeit erschuf er seine erste Marionette.

So hat es mir Ezintasuna erzählt und so erzähl ich es euch.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Gute Reise http://superdemokraticos.com/themen/burger/gute-reise/ Fri, 10 Sep 2010 05:42:10 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1778 Für Martha und Pedro Navaja

Eins

Mich hat gerade, vor zwei Stunden, ein Freund meines Vaters angerufen, der in Brasilien lebt. Ich kenne ihn nicht. Er war mit seiner Frau eine Woche in Venezuela. Jetzt fahren sie wieder. Das Flugzeug müsste bald abheben. Sie haben so viel Schlechtes über Caracas gehört, über die Überfälle und Morde, dass sie das Risiko, Caracas ohne Begleitung kennen zu lernen, nicht eingehen wollten. Sie sprangen förmlich vom Internationalen Flughafen Simón Bolívar de Maiquetía zum Nationalen Terminal und von dort zur Isla Margarita. Und von da aus zurück zum Flughafen und dann zu dem anderen, von wo aus ich diesen seltsamen Freut-Mich-Sehr-und-Auf-Wiedersehen Anruf bekam. Ich hätte sie auch bedroht: mit einem Abenteuer aus Brunnen, Bars, verschiedenen öffentlichen Transportmitteln, dem Zentrum, Boulevards, einheimischen Gaststätten, vielleicht mit einem Park und natürlich auch mit guten Freunden, all den Dingen, die trotz der Makel dieses Ortes, das Beste daran ausmachen.

Zwei

Das erste Mal, das ich in Caracas überfallen wurde, war an einem Samstag im Jahr 1998, auf der Straße Luis Roche de Chacao, die von vielen für die sicherste Straße des sichersten Viertels gehalten wurde. Neun Uhr Abends. Ich konnte die Waffe nicht sehen, es gab nämlich keine. Stattdessen prägte ich mir das Gesicht und den Körperbau des Kriminellen sehr gut ein: bei einem Mann gegen Mann Kampf hätte ich, ohne eine Sekunde zu zweifeln, auf ihn gesetzt. Aber meine damalige Freundin – blond, zierlich und unterhaltsam – war anderer Meinung. Also war ich dazu  gezwungen, hinter diesem Mammut herzurennen, das sie aufs Übelste beschimpfte, während ich – völlig vergebens – versuchte, ihr mit der Hand hinter meinem Rücken zu verstehen zu geben, dass sie sich beruhigen solle. Ich habe mich nie so heuchlerisch, so lächerlich gefühlt, wie in diesem Moment. Aber ich habe es gemacht. Ich rannte –genauer gesagt, joggte ich – hinter dem Verbrecher her, und nach einem Block verringerte ich mein Tempo bis zu einer fast absurden Geschwindigkeit. Mir ist nur gelungen, mich selber zu fragen, wie sich jemand, der so langsam lief, traute, andere zu überfallen, und dabei nicht mal eine Pistole benutzte. Was für ein Risiko! Eines ist sicher: Die Not kennt kein Gebot.

Bei dem nächsten Vorfall, 22 Tage später, an einem Sonntag um acht Uhr Abends, packte ich den Gauner an der Schulter, als er derselben blonden, zierlichen und nun nicht mehr ganz so unterhaltsamen Freundin ihre Halskette entriss – nur um zu verhindern, dass sie mich mit einer weiterer Serie an Kritik, die sich gegen meinen angeblichen Mut und Stärke richtete, bei meinem Stolz packte. Ganz zu schweigen von meiner Geschwindigkeit, die seit drei Wochen in Zweifel gezogen wurde. Das Gesicht des neuen Räubers und meine rechte Hand zogen den Kürzeren. Sie sah am Ende wie Serrano Schinken aus, nur saftiger. Der Ort: Ein Boulevard, der als gefährlich galt, in einer größeren Neubausiedlung: die Baralt de la Libertador. Der Gauner hatte zwei weitere Individuen dabei, und ich war in Begleitung eines Freundes. Da um diese Uhrzeit das Chaos auf den Straßen zunimmt, endete das, was als frustrierter Überfallversuch begann, in einer kommunalen Schlägerei mit lauter Neugierigen, die mein Freund und ich aus der Ferne beobachten konnten, während wir uns Richtung U-Bahn entfernten. Na ja, leider ohne die Kette und mit dem Gedanken, dass der Dieb, der Arme, nicht Schuld daran hatte, sondern meine Freundin. Oder ihr Charakter. Oder die Art, wie sie erzogen wurde.

Neun Jahre vergingen. Dann, an einem sonnigen Mittag, an einem Freitag, ich bereitete gerade alles vor, um mit einer neuen Freundin zu verreisen, zwei Straßen von einem der meistbesuchtesten Einkaufszentren Caracas entfernt, in einer Wohnsiedlung der Mittelschicht, in einer Gemeinde, die halb aus Bourgeoisie und halb aus ärmeren Leuten besteht, El Tolón, in Las Mercedes, Baruta, stellte sich mir ein Schurke mit einem Gipsarm gegenüber, der von einem Motorrad stieg, das jemand anders fuhr und sitzenblieb. Beide waren bewaffnet. Ich trug zwei Taschen. Eine große in der Hand, mit Kleidung, drei Büchern und einer Digitalkamera, auf der kompromittierende Bilder in hoher Auflösung gespeichert waren. Und eine kleinere, einen Rucksack, in dem mein Laptop war.

Ich habe nicht gefragt. Ich sagte, ganz deutlich: Was immer du willst.

Er war sehr eindeutig: Ich will alles.

Gut, ich beherrsche den Kode, dachte ich, aber ich widersprach mir: Ich kann dir die große Tasche geben, hier in der anderen habe ich mein Arbeitsmaterial. (Unmittelbarer Gedanke am Rande der Aktion: „Arbeitsmaterial? Was soll das, Leo Felipe?“).

-Was hast du da?

-Mein Laptop.

-Ok.

Als ob ich in irgendeinem Büro Sachen ausdrucken würde, täuschte ich eine lässige und müde Haltung vor, diese beiden Bestandteile der Gewohnheit. Ich gab ihm die große Tasche, zog mein Portemonnaie heraus, öffnete es und nahm alles Geld, was ich hatte, und allen Mut zusammen und sagte zu ihm:

-Ich gebe dir das Geld, denn wenn ich dir die Karten gebe, lass ich sie sowieso in 10 Minuten sperren.

Er fuchtelte mit der Waffe, kniff etwas die Augen zusammen und antwortete mir: Beeil dich, Schwanzlutscher, ich mach doch keine Geschäfte mit dir. Gib mir jetzt die Kohle oder ich mach dich kalt.

Die Wahrheit? Ich fühlte mich beleidigt, aber nicht wütend. Ich habe die Dinge gut gemeistert, schnell, es war sauber und klar. Es hat mir nicht gefallen, wie er mich behandelt hat, was ich immer noch als ungerecht beurteile, nur um zu beweisen, wer in diesem Moment die Macht hatte. Das tat mir weh. Und das teilte ich ihm mit einer rhetorischen Frage mit, in einem ruhigen und reflektierten Tonfall, mit beiden Händen in die Hüften gestützt:

-Was soll das, Alter?

Ich gab ihm alle Scheine, die in meinem Portemonnaie waren, bis auf einen und setzte einen Gesichtsausdruck wie ein Geliebter in einer Telenovela auf, der gerade versetzt wordenist. Sie gingen. Ich nahm meinen Rucksack und tätschelte mein Laptop. Aus der anderen Hosentasche zog ich eine geringere Summe Geld, die ich immer einstecken hatte, für den Fall, dass ich ausgeraubt werde. Und ich ging los, machtlos, aber mit Stolz geschwollener Brust, um direkt eine Arepa zu essen, die ich aus purer Lust und Laune mit meiner EC-Karte zahlen würde. Wenn man erwachsen wird, muss man lernen, zu verhandeln, nicht alles wird mit Gewalt gelöst. Wegen der Fotos, da musste ich mein Möglichstes tun, um bessere zu machen, denn ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Aber ich fühle mich bereit, meine Urheberrechte bei einer möglichen Klage einzufordern.

Drei

Als der Freund meines Vaters aufgelegt hatte, erinnerte ich mich an diese drei Überfälle, die ich über mich ergehen lassen musste. Bei den 22 Jahren, die ich in dem Scheiß-Caracas wohne, ist das kein Schnitt, der einen in Ohnmacht fallen lässt. Ich hätte ihm gerne gesagt, dass – obwohl die Geschichten, die ihm erzählt wurden, wahr sein können –die Realität dieser Stadt nicht weit von der, die beispielsweise in Rio de Janeiro gelebt wird, entfernt ist. Und dort werden die nächsten Olympischen Spiele stattfinden. Und die Leute lachen und tanzen und sind bezaubernd und stehlen auch Autos, und es gibt informelle Regelungen, die über den Gesetzen stehen und frühzeitige Schwangerschaften und Betrunkene und ein Übermaß an Musikern und Dichtern und Mördern und Wahlen und andere unbestreitbare Synonyme.

Aber es war Montag, ich hatte gerade meine Tochter in einem Kindergarten angemeldet, aß spät zu Mittag, hatte gerade Sex, und der war großartig, und ich musste auch noch mit einem Motortaxi zu einem vorindustriellen Büro mit Panoramablick fahren, an einem Meeting teilnehmen, die Präsentation eines Verlagsprojekt für 2011 verfassen, das wegen Geldmangel nicht umgesetzt werden würde, einen Tee mit einem Musikerfreund trinken gehen, der gerade zu Besuch ist und morgen wieder in seine Heimatstadt fährt, ein Treffen auf ein Bier mit einer früheren Chefin absagen und wieder nach Hause kommen, um an einer Reportage im Buchformat zu arbeiten, die ich in zwei Wochen abgeben muss und die nicht fertig werden wird. Deshalb denke ich, es war das Beste ihm das zu sagen, was ich ihm gesagt habe: Gute Reise. Denn es gibt Dinge, die man besser erleben sollte, als nur von ihnen zu hören.

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