Politik – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Ist da jemand? http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/ist-da-jemand/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/ist-da-jemand/#comments Sat, 09 Jul 2011 10:51:21 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4494 Wer bin ich? Bestimmt diese Frage die Art und Weise, wie ich mit anderen zusammenlebe? Möglicherweise, obwohl sich die Person, die ich wirklich bin, zu der im Internet viel mehr unterscheidet, als wir es uns vorstellen können. Das kommt daher, dass wir Schöpfer unseres Avatars sind und gleichzeitig die Schnelligkeit des geschriebenen Wortes überwinden. Wir hinterlassen eine unverwischbare Spur. Alle unsere Persönlichkeiten werden gespeichert, all unsere Überlegungen, unsere Liebesleiden, unsere Verstimmung.

Irgendein Neugieriger kann unseren Namen bei Google eingeben und die Suchmaschine wird ihn zu einer Reihe von Internetseiten und Fotos von uns weiterleiten. Bis hin zu lächelnden Geistern aus einer Jugend, die wir mit Menschen verbracht haben, mit denen wir uns heute vielleicht gar nichts mehr zu sagen haben. Früher, als die Welt noch durch unüberwindbare Bergen getrennt wurde, waren wir Menschen auf eine bestimmte Anzahl von Personen in unserem Umfeld beschränkt. Oftmals verlief unser Leben zwischen denselben Gesichtern. Oft hatten die Menschen keine andere Wahl, als unser Schicksal zu akzeptieren. Ein Schicksal, das von unserem Geschlecht, unserer Kaufkraft und unserem kulturellen Niveau geprägt wurde. Ein Förster wurde als absolutes Phänomen angesehen und auch so behandelt, und jemand, der aus fremden Ländern berichten konnte, war ein Gelehrter, wenn wir den Worten von Todorov in „Les Morales de l´histoire“ (dt.: Die Moral der Geschichte) Glauben schenken dürfen.

Im Gegensatz zu früher kommunizieren wir heute die ganze Zeit mit anderen Ländern. Wenn wir den Computer anschalten, öffnet sich vor uns die Welt und mit Hilfe des Internets suchen wir nach unseren Zeitgenossen, auch in den entferntesten Winkeln der Welt. Die Fiktion in der wir leben, macht uns glauben, dass wir alle gleich sind, dass keine Grenzen existieren und dennoch ist die globalisierte Welt an sich definitiv nicht grenzenlos. Das weiß jeder Lateinamerikaner, der den Kontinent verlassen will. Das wissen auch wir, die außereuropäischen Ausländer in Europa: unser Recht auf Reisefreiheit ist eingeschränkter und kontrollierter als je zuvor. Das wissen auch die europäischen Frauen, die trotz des Diskurses über Politische Korrektheit im wahren Leben weiterhin weniger verdienen als ihre Partner und obwohl sie – genau wie die lateinamerikanischen Frauen – beruflich einen Doppelbelastung meistern. Das wissen die Ausländer, die mit den Vorurteilen leben müssen, die sich über ihre Herkunftsländer ranken. Das wissen die Indigenen, die versuchen für ihre Rechte zu kämpfen, auch im Netz.

Sieht die Realität etwa aus wie die U.S.-amerikanischen Vorabendserien, die wir im Fernsehen sehen? Nein. Oft ist die Multikulturalität, etwas das draußen bleiben muss, wenn wir die Türen unseres Zuhauses schließen und uns wieder in das einigeln, das wir für Realität halten, denn das ist unser reales Leben und trotzdem erschaffen wir in dieser Realität Personen, die uns in der virtuellen Welt vertreten. Dieser Raum, in dem ich die Hautfarbe und das Geschlecht frei wählen kann, mir eine soziale Schicht aussuche, auf die ich gerade am meisten Lust habe, und die politische Einstellung, die ich für passend halte.

Die neuen Technologien bieten uns einen Zugang zu Ersatzmitteln, wir können in Echtzeit mit unseren Verwandten kommunizieren und über die WebCam interagieren. Wir können dort den für uns vorherbestimmten Menschen suchen, auch in den letzten Winkel der Welt. Wir können uns weiterbilden, informieren, selbst herausgeben und uns finden, um eine Revolution anzuzetteln. Online bin ich ein vollständiger Mensch, wie eine fiktive Person. Inwieweit berührt diese Fiktion, diese Projektion, die wir von uns selbst erschaffen, unser Umfeld?

Im Juli beschreiben unsere Autoren ihre Überlegungen zum Thema Zusammenleben in der realen Welt. In derjenigen, die wir durch das Netz in ihren tatsächlichen Möglichkeiten und Einschränkungen immer weniger wahr nehmen. Wer lebt wie und mit wem? Das ist eine Frage, der wir bei Los Superdemokratiocos des öfteren nachgehen, denn unser Modell der Interaktion haben wir von den Straßen des Viertels kopiert, in dem wir wohnen. Das Aleph, das uns das Schicksal zuwies, wie Borges es definieren würde: diese drei Zentimeter, in denen das gesamte Universum enthalten sei, ist konfliktgeladen. Das Land, das ihn besitzt, publiziert nichts anderes als Schlagzeilen über Dinge, die hier nicht funktionieren; und dennoch sind wir alle, die hier wohnen – unabhängig von unseren sexuellen, sprachlichen, ethnischen und politischen Vorlieben, unserer sozialen Schicht und der Armut – wohl an wenigen Orten des aktuellen Europas nahe daran, so zu sein, wie wir tatsächlich sein wollen. Es mag sein, dass die Menschen der Antike kein Internet hatten, aber wir alle haben immer schon an Babylon gebaut.

Wir senden hier aus Kreuzberg. Over. Ist da jemand?

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Ich habe mir die Haare nicht entfernt http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/ich-habe-mir-die-haare-nicht-entfernt/ Mon, 11 Oct 2010 21:25:43 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2887

Pedro Mairal wurde 1970 in Buenos Aires geboren, seine Bücher sind in mehrere Sprachen übersetzt und in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland herausgegeben worden. 2007 wurde er von der Jury der Bogota39 zu einem der besten, jungen Schriftsteller Lateinamerikas erklärt. Er sprach über Argentinien, die Buchmesse und politisches Positionieren:

Wie Borges schon sagte: Man ist leider unvermeidlich Argentinier. Man kann es nicht vermeiden, Argentinier zu sein, man kann es nicht vermeiden, Lateinamerikaner zu sein. Man kann es nicht vermeiden, für die Europäer exotisch zu wirken. Man kann weder versuchen, noch kann man vermeiden, es zu sein. Mich interessiert sehr, wie die Politik und die Geschichte in der Intimität widerhallen, wie sie im Bewusstsein, im Körper widerhallen.

Mich interessiert Politik, wenn die gefällten Entscheidungen schlussendlich im Körper von irgendjemand Wirkung zeigen. Es gibt beispielsweise eine Erzählung über eine Frau, die gefoltert wurde. Sie wurde in den Keller gebracht, in einen Kerker geworfen und angewiesen, sich nackt auszuziehen. Sie wusste, dass sie gefoltert werden würde, aber das erste, an das sie dachte, als zu ihr gesagt wurde, sie solle sich ausziehen, war: Ich hab mir die Haare nicht entfernt. Diese kleine Windung des Gedankens, dieser Moment der Intimität, in dem der Scham größer ist, als alles andere, das ist der Moment, in dem für mich die Prosa eintreten soll. Nicht in der Makro-, sondern in der Mikro-Politik. In jener Intimität, da, wo die politischen Entscheidungen schlussendlich im Bewusstsein, im Körper widerhallen, und eine persönliche Verzweiflung hervorrufen. Ich versuche immer zu vermeiden, mich politisch zu positionieren. Das passt am besten zu meinem Wesen. Ich habe keine klare politische Einstellung. Das hängt ziemlich von der Laune ab, mit der ich morgens aufstehe, außerdem fühle ich mich durch keine der derzeitig in Argentinien existierenden politischen Parteien tatsächlich vertreten. Demnach fühle ich mich politisch ziemlich frustriert.

Ich bin mit der persönlichen Freiheit der Demokratie aufgewachsen, das ist die Kultur, die mich prägte. Die Gefahr, in der unsere Generation sich befindet, ist, dass wir sie als selbstverständlich ansehen. Aber wir sollen nicht vergessen, dass es etwas ist, das man erreicht hat, etwas, zu dessen Erhaltung man beigetragen hat, und in diesem Punkt glaube ich schon, dass ich eine persönliche Verantwortung habe, die darin besteht, für das Thema zu sensibilisieren.

Ich habe nur zwei Hallen von der Messe gesehen. Mir kommt es vor, als wären es mehrere Messen zusammen, es ist monströs, riesig, unüberschaubar. Ich war noch nie auf einer so großen Buchmesse. Ich versuche, alles zu sehen, was ich schaffe, aber ich weiß, dass es unmöglich ist, alles zu sehen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Globalisierung: Für Kuba zutreffend? http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/globalisierung-fur-kuba-zutreffend/ Wed, 22 Sep 2010 15:14:12 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2057 Das Wort Globalisierung ist auf Kuba doppeldeutig. Wir haben sicherlich nicht diese in vielen Ländern vorzufindende hybride Wirtschaftsform, die ein allgemein anerkanntes Kennzeichen der Globalisierung ist. Eigentlich haben wir gar keine Wirtschaft. Auf Kuba war das lange ein verbotenes Wort. Zunächst einmal deshalb, weil in der von der Kubanischen Revolution geschaffenen Staatsform der Staat die Verantwortung für die Wirtschaft übernahm. Es ging darum, ein Modell für ein zukünftiges Land aufzubauen, oder besser gesagt, für eine zukünftige Welt. In diesem Modell war, wie in jedem Modell, die Wirtschaft grundlegend.

Die Konsequenz? Heute haben wir einen Expräsidenten, einen historischen Mythos und einen halbwegs linksradikalen Dinosaurier – Fidel Castro, jawohl – der in einem Interview zugibt, dass das Modell des kubanischen Sozialismus nicht sonderlich gut funktioniert. Auch wenn er später die Aussage zurücknahm, steht diese Erklärung doch sehr offensichtlich im Zusammenhang mit den neuen wirtschaftspolitischen Maßnahmen von Präsident Raúl, seinem Bruder, in denen zum ersten Mal seit 50 Jahren nicht nur das Privateigentum wertgeschätzt wird, sondern auch über Massenentlassungen Anreize für die private Akkumulation geschaffen werden. Wie spiegelt sich das im Alltag wider? Sagen wir mal so, dass die Globalisierung der Wirtschaft eine Legende ist, über die ich so viel gehört habe, dass ihr Einfluss auf die Wirklichkeit dem Einfluss der Legende vom Weihnachtsmann gleicht…

Ein weiteres Kennzeichen der Globalisierung: die Zunahme der Migrationsbewegungen. Im Fall von Kuba hat auch hier der nationalistische-kommunistische-sozialistische Staat (das waren die verschiedenen Bezeichnungen des revolutionären Prozesses) unter je unterschiedlichem Vorzeichen, in verschiedenen Kontexten und zu sehr umstrittenen Bedingungen massive Auswanderungswellen angestoßen. Zugleich wurden dem normalen kubanischen Staatsbürger Auslandsreisen verboten. Die Ausreiseerlaubnis – und die Einreiseerlaubnis für den emigrierten Kubaner – machten die Insel zu einem gigantischen Gefängnis, dessen Außenmauer das Meer war. Also, … das mit der Migration ist ein delikates Thema für jeden Kubaner und weit vom modus vivendi eines privilegierten Bürgers der Ersten Welt entfernt.

Zu guter Letzt betet die Propaganda der neuen, vom Norden gehätschelten Ideologie der – Globalisierung (welche andere hätte es sein können? ) – vor, dass jeder von uns ein Mosaik sei. Nun gut, von Lateinamerika aus betrachtet würde die Sache anders aussehen oder sieht sie anders aus… Die Befreiung unserer Länder von der Kolonialherrschaft wurde auf der Basis des Ausschlusses vieler Teile des kontinentalen Mosaiks errungen. Die Ureinwohner, Schwarzen und Chinesen und andere mehr wurden innerhalb jedes Landes an die Ränder einer kreolischen Gesellschaft gedrängt, die sich als weiß und europäisch verstand.

Gegen Ende dieses Prozesses fingen viele „Ethnologen“ an – auf Kuba haben wir Fernando Ortiz –, über Synkretismus, Transkulturalisierung, letztlich über kreuz und quere Mischungen zu sprechen. Jedoch hat dieses Bestreben, alle Teile des Mosaiks als Zutaten ein und der selben Suppe zu verstehen, etwas sehr Trügerisches und Vorgegaukeltes. Es handelt sich um eine Form des Einschluss ohne einzuschließen: Was schließen wir ein, wenn alles schon da ist? Die Entwicklungslinie dieses Denkens – welches positivistische Züge trug – reicht bis ins 20. Jahrhundert und fand Eingang in die Kubanische Revolution. Und zwar in dem Moment, als diese auf einzigartige Weise erklärte, alle Minderheitenorganisationen des Landes auflösen zu wollen und jede Diskriminierung auf Grund der Hautfarbe zu verbieten, indem sie einerseits eine Politik der positiven Diskriminierung ins Leben rief und anderseits verlautete, dass ein Revolutionär nicht rassistisch sein könne. Es würde eine gute Lektion in Politik abgeben, würde man analysieren, wie die Kubanische Revolution die Differenz zwischen dem „Sollen“ und dem „Sein“ ideologisch gehandhabt hat: leider aber eine Lektion in Politik, die dazu führen würde, über den „Multikulturalismus“ zu sprechen, diese globalisierte Etikette.

Übersetzung: Anne Becker

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Vierter Sommersalon – „Cronotopo cero“ http://superdemokraticos.com/editorial/vierter-sommersalon-cronotopo-cero/ Sat, 18 Sep 2010 18:07:56 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2092

Ich bin im Hotel.
Wo?
In der Hotelbar.
Welches Hotel?

Seit ein paar Jahren gibt es eine Raumzeit Null – einen Cronotopo cero – in der Mariannenstr. 26 in Berlin-Kreuzberg, wo sich Fremde, Hartz-4-Empfänger und Millionäre treffen: „Wir wollten einen Platz schaffen, an dem die Orientierung verloren geht“, erklärt Carsten, Hotel-Besitzer, der eigentlich ein französisches Bistro eröffnen wollte. Das Hotel war – schon immer und überall auf der Welt – ein Ort zum Ankommen und dann wieder Weiterreisen, ein Transit-Ort, der einlädt und nicht wertet, hier spezifisch ein Ort, wo Spanisch und alter Jazz-Swing-Blues die lingua franca sind. In diesem Hotel wirkt alles verbraucht und benutzt, aber auch altbekannt, wie bei dir um die Ecke, in der Provinz oder in der Großstadt – wenn du deinen Computer anmachst.

Überprüfe deine Haltung.
Strecke dein Rückgrat.
Tut dir dein Rücken weh?

Bei den unter 40-Jährigen regiert noch die Ironie, denn wir sind noch nicht im Sarkasmus angekommen: Wir singen Politik wie etwa MC Eisbommi, unser Gast mit Ukulele und kabarettistischem Liedgut, der bei unserem vierten Sommersalon am 24. September auftreten wird. Er selbst beschreibt sich so:

MC Eisbommi ist der einzig wahre Barde der Gegenwart – das hat er mit seinem ersten Hit Deine Mudda kommt aus Berlin unter Beweis gestellt. Wo andere versuchen, superschlau rüberzukommen, ist Bommi einfach superschlau. Wo andere sich bemühen, total ironisch zu wirken, ist Bommi einfach total ironisch. Wo andere verzweifelt nach musikalischen Innovationen suchen, sagt Bommi: „Scheiß drauf, wir machen einfach was, das geht ins Ohr und in die Beine. Fertig! Und wenn’s dann ein bisschen nach ‚Gimme hope, Joanna‘ klingt oder nur zwei Akkorde hat – egal!“ Diese Mischung aus geistiger Potenz und musikalischer Unbefangenheit – in Kennerkreisen wird Bommis Stil auch als „Ballermann-Mucke für Akademiker“ bezeichnet – macht MC Eisbommi (benannt nach einem Mixgetränk aus Deutschlands hohem Norden) zu dem kommenden Ereignis in der nationalen Singer-Songwriter-Szene.

Wir sagen: Es ist nicht nur ein kommendes Ereignis, sondern ein sehr bald kommendes Ereignis! Wir freuen uns, mit MC Eisbommi, mit euch und mit Gästen, Freunden, Unbekannten und Durchreisenden unseren vierten und leider letzten Sommersalon 2010 zu feiern: am Freitag, 24. September, um 21 Uhr in der Hotelbar, Mariannenstr. 26.

Text verfasst von Rery und Nikola im Hotel.

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Über was sollen wir denn sonst reden? http://superdemokraticos.com/themen/burger/uber-was-sollen-wir-denn-sonst-reden/ Fri, 17 Sep 2010 23:04:09 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1628 Mexiko übersteigt mein Auffassungsvermögen. Vielleicht liegt der Fehler darin, sich dem Ganzen mit rationellen Mitteln nähern zu wollen. Es ist nicht möglich, es zu verstehen. Wie soll man das Böse, die Grausamkeiten, die Verschlechterung verstehen, die charakteristische für die Lage sind, in der sich das Land momentan befindet. Ich mag keine moralischen Urteile, aber die Umstände laden beharrlich dazu ein. Oder vielleicht will ich, wenn ich von dem Bösen, den Grausamkeiten, den Verschlechterungen spreche, eher meinen Horror ausdrücken, als ein moralisches Urteil fällen: ein Horror, der mehr aus meinem Bauchgefühl kommt als aus der Vernunft. Und natürlich handelt es sich dabei nicht nur um einen Moment: Das kommt von früher und wird weiter anhalten. Ja, ich weiß: Jahrhunderte der Korruption, Armut, Ungleichheit, Autoritarismus, Unterdrückung. Aber die historische Perspektive allein reicht nicht aus, um das zu erklären. Es gibt noch etwas, was ich nicht begreife. Etwas Metaphysisches. Wer in Mexiko geboren wird, besitzt Karma, sagte ein Astrologe. Aber auch die Esoterik reicht nicht aus.

Aufgrund der steigenden Welle an Gewalt bezieht Präsident Felipe Calderón, teilweise wegen seiner schlechten Strategie bezüglich dessen, was er „Krieg gegen den Drogenhandel“ nennt, mitverantwortlich für die derzeitige Situation, Position. Er bittet die Medien darum, die Menschen nicht zu beunruhigen. Aber Über was sollen wir denn sonst reden? betitelte die mexikanische Künstlerin Teresa Margolles sehr treffend ihre Ausstellung auf der letzten  Biennale von Venedig. Eine Installation, die unglaublich berührt und Materialien verwendet, die von der Künstlerin an Tatorten der Verbrechen zusammengesammelt wurden, die vorrangig mit Drogenhandel in Zusammenhang standen: Die Böden des antiken venezianischen Palastes wurden mit einer Mischung aus Wasser und Blut der Opfer (die in manchen Fällen auch gleichzeitig Täter waren) „gewaschen“. An den Wänden wurden Botschaften der Mörder ausgestellt, in Gold auf blutdurchdrängtes Leinen gestickt (eine Anspielung auf die „Narco-Mantas“), und es wurden prahlerische Juwelen gezeigt, Narco-Style, aus Gold und mit Scherben besetzt (so wie man Diamanten einarbeiten würde), aus Windschutzscheiben, die bei Schusswechseln zu Bruch gingen. Die Installation grenzt schon fast an Illegalität, da mit Materialien gearbeitet wurde, die polizeiliche und gerichtliche Beweisstücke sind. Dass derartige Dinge in den Besitz einer Künstlerin gelangen konnten, deutet auf die Bestechlichkeit der offiziellen Autoritäten hin. Natürlich ist dieses Bild von Mexiko wegen seiner paradoxen Wörtlichkeit symbolisch sehr gut getroffen und wird von der Regierung des Landes als ausgesprochen störend empfunden.

Die Installation von Margolles arbeitet mit der Angst und dem körperlichen Angstzustand und lädt dazu ein, über diese als Provokation nachzudenken. Ist die Angst letzten Endes nicht ein wirksamer Kontrollmechanismus? Wir alle haben dies seit dem 11. September am eigenen Leibe erfahren: Eine Flasche Wasser in ein Flugzeug mitzunehmen, macht dich sofort zu einem Verdächtigen. Eine Flasche Wasser! Wir leben in einer Epoche der generalisierten Paranoia, und damit will ich nicht sagen, dass die Gefahr nicht real ist. Aber Tatsache ist, dass ich Flughäfen jeden Tag mehr hasse. Sie haben sich in eine Art der Angst- und Kontroll-Performance verwandelt. Und ich hasse es, mich kontrolliert zu fühlen.

Deshalb weiß ich nun nicht mehr, was ich denken, fordern, verlangen soll, und was ich bei so schrecklichen Situationen, wie in der Nachricht, die vor einigen Tagen erschien, vorschlagen soll: 72 lateinamerikanische Migranten wurden von der Zeta hingerichtet (eine Gruppe Auftragsmörder, die in Verbindung mit dem Drogenhandel steht). Die Zeta arbeitet so. Und zu ihrem vielseitigen Aufgabengebiet gehört auch die Entführung von Migranten, die aus Zentral- und Südamerika stammen und versuchen, von Mexiko aus in die USA zu gelangen, um dort Arbeit zu finden. Was ist das für ein Land, in dem auf einen Schlag 72 Menschen straffrei getötet werden können? Das erste, was mir einfällt, ist, Zucht und Ordnung von der Obrigkeit zu verlangen. Gleich darauf erschreckt mich mein eigener Wunsch. Wie viel Totalitarismus und wie viele Verbrechen der Regierung sind genau dieser Forderung des Volkes entsprungen? Genau das, und ganz zu schweigen von der Korruption, Komplizenhaftigkeit und Kriminalität der mexikanischen „Ordnungsmächte“… Und Tatsache ist, dass es in diesem „Krieg gegen den Drogenhandel“ unzählige zivile Opfer gab, Unschuldige, die durch die Kugeln des Militärs oder der Polizei starben. Wie es in dem Lied von Liliana Felipe heißt: „Tienes que decidir / quién prefieres que te mate: / un comando terrorista / o tu propio gobierno para salvarte / del comando terrorista…” („Du musst dich entscheiden/ wer dich töten soll:/ein Terroristenkommando/ oder deine eigene Regierung, um dich zu retten/ vor dem Terroristenkommando…“)

Natürlich müsste man die Drogen legalisieren. Und natürlich ist es eine Heuchelei, von einem „Krieg gegen den Drogenhandel“ zu sprechen, wenn das Geld aus dem illegalen Handel einer der Stützpfeiler der nationalen Wirtschaft ist. Wenn die Politiker und Autoritäten tatsächlich etwas ändern wollen würden, sollten sie damit anfangen, El almuerzo desnudo (Naked Lunch) von William Burroughs zu lesen.

Na gut, ich sollte zum Schluss kommen. Parallel dazu hat eine liebe Freundin, die Dichterin María Rivera, kürzlich auf ihrer Facebook-Seite, eine Form des zivilen Sabotage-Protests vorgeschlagen: Sie forderte die Hobby-Drogenkonsumenten dazu auf, ihre Naschereien solange nicht mehr zu kaufen, bis das Gewaltniveau gesunken ist. Ein Boykott wie man ihn auch gegen jedes andere Produkt machen würde, das gegen die Prinzipien verstößt, die wir für wichtig halten. Denn es gibt ja auch den Punkt der eigenen Mittäterschaft. Ich stelle mir eine außergewöhnliche Demo vor, bei der all meine Freunde, mit weit aufgerissenen Augen, wegen der Entzugserscheinungen, durch die Straßen marschieren und Slogans rufen wie: „Bis er nicht aufhört der Thriller, kauf ich nicht mehr bei meinem Dealer!“ Könnte sein. Wer weiß. Ich weiß es nun mal nicht.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Leiser Komplott http://superdemokraticos.com/themen/burger/espanol-el-complot-silencioso/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/espanol-el-complot-silencioso/#comments Fri, 27 Aug 2010 15:47:39 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1313
Ich praktiziere einen einsamen Aktivismus: Ich treffe mich mit anderen, um Bücher zu verlegen. Getrieben von der unschuldigen Perversion, das Buch als ein quasi magisches Objekt zu betrachten, habe ich mich mit ein paar weiteren Personen fast aus Zufall zusammengetan und damit begonnen, der Kulturindustrie ein wenig von dem verdorbenen, verführerischen Aberglauben zurückzugeben, der uns in unserer Kindheit eingeimpft wurde. Leute mit unterschiedlichen ästhetischen Auffassungen, verschiedenen Geschmäckern und Lektüren, die sich in einem unbesiegbaren literarischen Kampfgeist vereinen. Ein Miniaturheer, das bereit ist, aufs Ganze zu gehen, ohne viel zu erwarten. Alles wegen eines Objekts aus Papier.

Dieses scheinbar bedeutungslose Ding, das Buch heißt, ist für mich (und für die halbwegs verrückte Truppe) von großer Bedeutung. Ich gehöre zu der Sorte Mensch, die glaubt, dass man durch die Lektüre eines Buch jede Erfahrung vorweg machen kann: vom Bau einer Bombe bis zu den unergründlichen Mysterien der Liebe über den Fischfang und die Entdeckung von bisher unbekannten Orten in einem selbst. Ich habe mich für alle möglichen Verrichtungen der Bücher bedient, einschließlich für den Gesetzesbruch (klar, Bücher habe ich auch geklaut, was für eine Frage). Der Einfluss, den die Lektüre eines Buches auf das Leben von jemanden haben kann, ist unermesslich: Ich habe die rebellische Seite der Politik durch underground fanzines entdeckt, die ich in meiner Jugend in den 90ern (des vergangenen Jahrhunderts!) gelesen habe. Für mich charakterisiert das Prä-Internet, das Netz unplugged, jene Epoche des Austauschs und der Entdeckungen. Seit damals habe ich begonnen, an dem zu zweifeln, was für normal oder natürlich gehalten wird, seit damals habe ich das Gefühl, dass alles einen anderen Sinn hat.

In einem Land, in dem die Analphabetenrate extrem hoch ist (man muss abwarten, wie die jetzige Alphabetisierungskampagne vorankommt), das intellektuelle Leben wenig Tradition hat und für die große Mehrheit der Bevölkerung Bücher unerschwinglich sind, haben mich in meiner Arbeit drei Personen sehr inspiriert: Franco (ein reiselustiger Anarchist, der in einer Stadt ohne Buchläden Raubkopien von Klassikern und avantgardistischer Literatur anfertigte), Marcelo (jemand, der auf die harte Tour lernen musste, dass nicht nur „das Schöne“ zählt, sondern auch so prosaische Dinge wie der Markt) und Alison (eine promovierte Anthropologin mit einem exquisiten, freakigen Literaturgeschmack, die ihre eigenen Werke verlegt hat  – und die zu den besten meines Landes gehören – und die von weiteren mit Feder und Faust zur Randexistenz Verdammten). Von Nahem zu sehen, wie diese drei durch Widrigkeiten hindurch surften, brachte mich dazu, meinen eigenen Weg in der Welt der Verlage einzuschlagen. Eine Welt, in der die Autoren sich über den Mangel an Aufmerksamkeit und Privilegien seitens der Verleger und über die geringe Anzahl guter Lektoren und scharfsinniger Kritiker beklagen, eine Welt, in der die Verleger sich über den nachlässigen Umgang der Grafiker mit der Rechtschreibung und über die schonungslose Logik des Größenvorteils der Druckereien beschweren, eine Welt, in der die Drucker über die Schikanen der Papierlieferanten jammern, etc. Anstatt in diesem Beschwerdezirkel zu verbleiben, beschlossen wir, unsere Kontingenz mit Hoffnung und Dankbarkeit anzunehmen.

Im Mai 2008 habe ich mich mit anderen zusammen geschlossen, um unseren Narzissmen großzügiger zu dienen und Bücher zu verlegen (bisher ein Gedichtsband, drei Bücher mit Erzählungen und eine Anthologie lateinamerikanischer Literatur) und ein Blog zu betreiben, mit dem Ziel den Prozess zu rationalisieren. Wir wollen einen fehlerlosen und repräsentativen Katalog schaffen: Wir bewundern alle den Fetisch des „Neuen“. Manchmal ist es sehr schwer, und wir haben das Gefühl, alles sei verloren. Aber dann erinnern wir uns wieder daran, dass wir unser Schicksal auf uns nehmen. Wenn es einfach wäre, wäre es witzlos.

Übersetzung: Anne Becker

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Kubanische Transition http://superdemokraticos.com/themen/burger/kubanische-transition/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/kubanische-transition/#comments Wed, 25 Aug 2010 07:04:26 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1099 Kuba befindet sich in der Transition. Radikale Transformationen im Modus Operandi der Politik der Kubanischen Revolution. Raúl Castro, Präsident des Staats- und Ministerrat, stellte in seiner Rede zum Abschluss der Legislaturperiode der Asamblea Nacional del Poder popular (Nationalversammlung der Volksmacht) einige seiner Reformpläne vor. Um den Ton seiner Vision eines anderen Kubas zu markieren, ersetzte er am Ende seiner Rede das übliche Patria o Muerte: Venceremos (Vaterland oder Tod: Wir werden siegen) durch eine knappe Danksagung an das Publikum.“

Das war der erste Absatz eines verworfenen Entwurfs für einen Konferenzvortrag vor einem hauptsächlich nordamerikanischen Publikum beim Avant Writing Symposium der Ohio State University im August 2010. Wie soll man Kuba in 30 Minuten erklären? Während ich schrieb, versuchte ich, die offensichtliche Antworte beiseite zu schieben, die erste die einem in den Sinn kommt: unmöglich.

Mein Vortrag ist über Literatur. Aber was kann man über Kuba in welchem Bereich auch immer sagen, ohne über Politik zu sprechen? Ich kehrte noch einmal zu meinem Entwurf zurück. Es musste doch möglich sein, ich würde es erneut versuchen. Hier ist der neue Entwurf:

„Seit den 70er Jahren kann man sehr genau den Widerstreit zwischen der offiziellen kubanischen Kultur, die in den Medien und im öffentlichen Raum gezeigt werden darf, und den kulturellen Bewegungen, die sich weigern, sich an offizielle Vorgaben zu halten oder die nur vorgeben, sich daran zu halten, und von der revolutionären Kulturpolitik zurückgewiesen werden, erkennen.  In diesem Zusammenhang möchte ich auf einige alternative Initiativen eingehen, wie etwa auf die Cátedra de Arte conducta (Lehrstuhl für Verhaltenskunst) von Tania Brugueras, das Projekt Contexto (Kontext) von Desiderio Navarro, die unabhängige Galerie Aglutinador Laboratorio (Labor Bindemittel) von Sandra Ceballos und das neuere Gegenstück namens Xoho des jungen Rubén Cruces, so wie das Kollektiv OMNI Zona Franca (Freie Zone), das von den staatlichen Behörden geschlossen wurde, als es sich zu einem öffentlichen kulturellen Raum entwickelte.“

Ich halte die Finger auf meiner Tastatur an. Zweifel überkommen mich. Vermittelt der Ausspruch „intervenido por las autoridades“ (von staatlichen Behörden geschlossen) einen Polizeieinsatz  im Stil offizieller Absperrungen mit Polizeikette, Uniformen und schwerem Geschoss? Ich glaube nicht … Man müsste genauer werden, oder vielleicht, die Bilder zeigen. Und letzten Endes: Was würde es bringen? Die Fotos, wenn auch beeindruckend, sagen nichts über die Gründe. Ausländern muss man stets eine lange, sehr lange Geschichte erzählen, um ihnen den „Fall Kuba“ verständlich zu machen, oder genauer gesagt, um ihn wenigstens oberflächlich zu veranschaulichen. Das Gegenteil kommt vor, ist aber sehr selten. In der Mehrzahl merkt man, wenn man Ausländer befragt, dass sie rein gar nichts verstehen.

Ich gebe auf. Ich trinke einen Schluck Tee. Ein Schluck Tee kann immer Wunder der Veränderung bewirken, zumindest im Magen, der letztendlich eine der Hauptzonen jeglichen kulturellen Lernens darstellt. Ich tippe weiter in die Tasten, und ich lasse es zu, dass die erhofften Schlussfolgerungen fließen:

„Die Spannungen haben derzeit auf der Insel zugenommen. Wir finden heute im kubanischen Panorama selbst gebastelte Aufnahmestudios in Privathäusern, unabhängige Produktionsfirmen, die jungen oder herangehenden Künstlern illegal ihre Dienstleistungen anbieten.“

Das klingt gut, zumindest gibt es Hoffnung. Muss ich sagen, dass ich zu jenen jungen Menschen auf Kuba gehöre, die in ihrer Arbeit und ihrem Leben von der Hoffnung motiviert sind? Nein, lassen wir sie … Zu erklären, worin diese Hoffnung besteht, wäre blöder. Gehen wir über zur Schlussfolgerung.

So sieht’s aus, mein letzter Schluck. Der Tee ist kalt geworden. Ich muss noch einen machen. Ich lese meine Zeilen noch einmal, bevor ich mich von meinem Stuhl erhebe. Was für ein Vorträgchen. Transition, politischer Konflikt vs. Gesten alternativer Kultur, Hoffnung … Was für ein Blödsinn. Ich lösche alles und fahre den Computer herunter. Ich werde ein wenig schlafen. Es ist zwei Uhr nachts, und obwohl der Konferenztermin naht, schiebe ich das Schreiben meines Vortrags um einen weiteren Tag auf.

Übersetzung: Anne Becker

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Ich bin immer ein Beobachter gewesen, der Gefühle ernst nimmt http://superdemokraticos.com/poetologie/ich-bin-immer-ein-beobachter-gewesen-der-gefuhle-ernst-nimmt/ Wed, 16 Jun 2010 12:56:00 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=261 Vor ihrem Tod überreichte mir meine Großmutter eine kleine Autobiografie, die sie mit großer Mühe im Laufe ihrer letzten Jahre in einem Altenwohnheim in Buenos Aires in eine verrostete Schreibmaschine getippt hatte. Hin und wieder ging ich sie besuchen und wir tranken dann einen Kaffee in einer der Bars in der Gegend um die Plaza Italia. Bei einem jener Besuche übergab sie mir das Manuskript.

Calcagno - Foto: Mariano Maur


Feierlich überreichte sie mir die Fragmente ihres Lebens, die ihr der Beginn der Senilität noch erlaubt hatte, auf wenigen Seiten aufzuzeichnen. Die Feierlichkeit ist in meiner Familie mütterlicherseits etwas Unvermeidliches. Wir alle, auch meine eigene Mutter, versuchen immer, unseren kleinen Überlegungen solche Aufmerksamkeit zu verschaffen, als ob sie es würdig seien, in dicken Buchbänden veröffentlicht und später in der Nationalbibliothek aufbewahrt zu werden. Offen gestanden glaube ich, dass es sich hierbei um ein Erbe meines Großvaters handelt, dem Mann der Autobiographin. Er war ein äußerst ernster Typ, Anhänger eines rechten Nationalismus, an den sich heute niemand mehr erinnert, der aber einmal auf der ganzen Welt in Mode war. Ein antiliberaler Mensch in jeder Hinsicht und jeder Couleur: Töte die Schwulen, die Gringos, die Linkshänder, die Weiber usw. Die sonntäglichen Diskussionen während des Mittagessens, zum Beispiel, endeten immer damit, dass er – genervt von der ansteigenden Lautstärke und familiären Gereiztheit – mit der Faust auf den Tisch schlug und ein etwas altmodisches Schimpfwort von sich gab wie: Himmeldonnerwetter nochmal! Diese aus der Mode geratenen Schimpfwörter lösten bei den Kleineren von uns solche Lachanfälle aus, dass wir hinausliefen, um die Feierlichkeit des Augenblicks nicht zu stören.

Die Unterhaltungen mit meiner Großmutter drehten sich immer um Politik oder Philosophie. Sie verfügte über ein umfangreiches Wissen auf diesen Gebieten, da mein Großvater Geschichtsprofessor war und sie eine der ersten Absolventinnen der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Córdoba, und das zu einer Zeit, in der Frauen als wenig mehr denn als Samenempfänger angesehen wurden. Das machte sie zu einer avantgardistischen Frau, doch trotz des ersten Eindrucks war sie dies keineswegs. Merkwürdigerweise glaubte sie, dass die Frau sich dem Mann unterordnen müsse, jeden Tag mehrfach zu beten und für das Wohl der Familie zu sorgen habe. Viele Male versuchte ich, dieser Widersprüchlichkeit auf den Grund zu gehen, aber wie mit der Frage nach der Inexistenz Gottes und der Verantwortung der Kirche für die von ihr begangenen Verbrechen, erhielt ich keine Antwort…

In ihrer Autobiographie erzählt meine Großmutter– wie in jeder Autobiographie zu erwarten ist – einige Anekdoten, die für ihr Leben bedeutsam werden sollten, das heißt, in in ihrem Fall bedeutsam für ihre Familie. Auf diese Weise erscheine ich als Kleinkind in einer Episode, in der ich ein Plakat mit einer hierauf abgedruckten Kuh betrachte, während mich meine Alte mit einem dieser unsäglichen Pürees füttert, die zu den wenigen Dingen gehören, die ein Zahnloser verdauen kann. Obwohl ich recht pummelig war, versuchten sie andauernd, mich zum Essen zu bringen. Aber ich beschwerte und weigerte mich jedes Mal solange, bis sie mich vor das bunte Plakat mit der Kuh setzten. Mein Fleischverlangen wurde dadurch entfesselt, und ich fantasierte, dass jeder mit Brei gefüllte Löffel Steak, Niere oder Eingeweide führe. Als guter Argentinier wuchs ich damit auf, eine Kuh zu betrachten, und heute verschlinge ich ihre köstlichen Stücke.

Die Jahre vergingen und ich trat in das Schulalter ein, in dem ich weder größere Erfolge noch große Schwierigkeiten vorweisen konnte. Ich ging schlicht zur Schule, und mit ein wenig Wohlwollen und einem Minimum an Anstrengung bestand ich Jahr für Jahr für Jahr für Jahr. Im Alter von 12 oder 13 Jahren begann ich, Gitarre spielen zu lernen und gründete bald eine Band mit dem Ziel, die neuen Serú Girán zu werden. Nach mehr als zwölf Jahren und vielen Bandgründungen stellte ich fest, dass ich niemals so wie sie das Innerste der Menschen würde berühren können. In dem Moment beschloss ich, es sein zu lassen und auf Reisen zu gehen, um einen neuen Traum zu finden.

Währenddessen begann und beendete ich ein Studium auf dieselbe Art und Weise wie die Grund- und Oberschule, schnell und ohne Probleme. Bereits im letzten Jahr der Oberschule empfahl mir ein Geschichtslehrer, den ich bewunderte, keine Sozialwissenschaften zu studieren, da ich ansonsten Hunger leiden würde. Wenn aber die Alternative war, nicht zu studieren und mit der Musik Hunger zu leiden, oder Hunger zu leiden, aber ein wenig gebildet zu sein, so fand ich es besser, diesen letzten Weg zu gehen. Also studierte ich mehrere Jahre bis die Universität entschied, dass ich nun genug gelernt hätte, um mich mit einer Lizenz zur Meinungsäußerung über das, was uns geschieht, auf die Straße zu entlassen. Es scheint absurd, aber im Gegensatz zu Ärzten, Ingenieuren oder Anwälten gibt es für uns, die wir uns mit den Problemen befassen sollen, die uns alle betreffen, kein Zulassungsverfahren. Sie überreichen uns einfach ein Zeugnis und los geht’s.

Mit Mitte Zwanzig und einem Diplom in der Tasche, zog ich um, reiste, verliebte und entliebte mich, betrank mich, nahm Drogen und begann, regelmäßig Gedichte zu schreiben. Tonnen von Gedichten auf Papierschnipseln oder dem Handy oder einem Blog oder irgendeinem anderen Ort, an dem es Worten erlaubt ist, neutrale Flächen zu schikanieren. Worte und Worte und Worte und Worte. Worte haben mir immer gefallen, auch wenn ich nie ein großer Leser oder ausdauernder Radiohörer gewesen bin. Vor allem rede ich gerne, ich bin buchstäblich das, was man einen Schwätzer nennt. Wie Borges und meine Großmutter sagten: Das Beste, was man im Leben tun kann, ist, einen guten Schwatz zu halten.

Wir Bewohner von Buenos Aires sind der Unterhaltung ganz besonders zugeneigt. Hier reden alle und sagen ihre Meinung, als sei es eine griechische Agora. Vom Pförtner eines Gebäudes bis zum letzten Fußballer haben sie alle etwas über die Regierung, die Kultur, die Gewohnheiten oder, aktueller, gar über Europa oder irgendeinen anderen fernen Ort zu sagen. Der globalisierte Bewohner von Buenos Aires ist fast eine Massenvernichtungswaffe. Nichtsdestotrotz und möglicherweise aufgrund des Wortexzesses erweist sich die Stadt als ein äußerst inspirierender Ort. Inmitten all der TV-Dummheit und TV-Wiederholung lassen sich einige, meist nächtlich-alkoholisierte Stimmen vernehmen, die etwas wahrhaft Tiefgründiges zu sagen haben. Seit nun einigen Jahren widme ich mich der Wiedergabe einiger dieser Stimmen aus meinem Bunker im Viertel „Barrio del Once“. Im Lärm der Autobusse, einiger höllischer Rennwägen, die genauso viel zerstören wie sie transportieren, umgeben vom flüchtigen Smog Buenos Aires’, den die Pampa des Nachts wegfegt, greife ich auf das geschriebene Wort zurück, um meinen Ideen Berechtigung zu verleihen.

Um den Faden dieser kurzen Autobiographie wieder aufzunehmen: Ich empfinde es als äußerst schwierig über mich selbst zu schreiben, wenn ich selber nicht so genau weiß, wer ich bin. Als Politologe war ich immer zu poetisch und ich verliebte mich in alles, was ein bestimmtes utopisches Potenzial beinhaltete. Ich kam vom Kommunismus zum Chavismus und vom Chavismus zum progressiven Peronismus unserer Regierung, ohne dabei irgendeine der anderen, inzwischen schon langlebigen Liebesbeziehungen vollständig aufzukündigen. Was mich jedoch immer am meisten an der Politik lockte war ihre Fähigkeit, kollektive Phantasien entstehen zu lassen, Mythen, Parallelwelten, die alleine durch die Tatsache lebendig zu werden scheinen, dass es viele sind, die um ihre Entstehung kämpfen. Als Chronist interessieren mich weniger die Detailfragen des Gerichts oder die schachartigen Strategien der Macht. Ich bin immer ein Beobachter gewesen, der Gefühle ernst nimmt. Ich weine bei Massenveranstaltungen, ich weine, wenn ich die Reden Allendes oder Fidels sehe, oder der Genossen, die heute den Kontinent regieren. Mich bewegen die Worte mehr als die Taten, die Farben mehr als die Parolen und viel mehr die Gesten der Menschen als die Flaggen.

Ich suche eine Art Gleichgewicht zwischen meiner emotionalen und kreativen Unruhe und der harten Realität, die uns umgibt. Ich strebe danach, möglichst genau das auszudrücken, was mich berührt, aber gleichzeitig einige Züge professioneller Exaktheit zu bewahren. Zudem habe ich das Glück, dass einige glauben, meine Worte könnten über den privaten Kreis hinaus Bedeutung haben und veröffentlichen meinen Unsinn in diversen Medien auf dem Kontinent. Das, was ich heute geschrieben habe, diese Mini-Biografie, entsprang meinen Fingern mit derselben Geschwindigkeit wie meine Ideen. Ich hoffe, eines Tages ein Gedächtnis wie meine Großmutter zu haben, um sie fortführen zu können.

Übersetzung: Marcela Knapp

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