Poesía – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Wozu ein Gedichteregen? http://superdemokraticos.com/laender/chile/wozu-ein-gedichteregen/ Wed, 21 Dec 2011 10:46:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6245

Der „Gedichteregen“ (Originaltitel: Bombardements mit Gedichten) ist ein Projekt des chilenischen Kollektivs Casagrande, bei dem 100.000 Gedichte von 80 zeitgenössischen Autoren aus Helikoptern auf Städte abgeworfen werden, die in der Vergangenheit Bombardements erleiden mussten. Dieses Projekt wurde bisher schon in Santiago de Chile (Chile, 2001), Dubrovnik (Kroatien, 2002), Guernica (Baskenland, Spanien, 2004), Warschau (Polen, 2009) und in Berlin (Deutschland, 2010) umgesetzt. 2012 folgt London.

Beim Nachdenken über den Film „Let the right one in”, den ich gerade gesehen hatte, fiel mir der ehemalige nordkoreanische Staatschef Kim Il Sung ein. Der Film hatte mich wegen seines mega-realistischen Fokus, den er auf das Genre Vampir-Film richtet, beeindruckt. Ich versetzte mich in die Rolle des Protagonisten, der ein Monster war, sympathisierte ich mit ihm und wünschte ihm, dass er die schrecklichsten Gräueltaten verüben möge. Es mag dumm klingen, aber während ich nach Hause ging, dachte ich lange über die moralischen Entscheidungen nach, die ich während des Filmes getroffen hatte, aus Angst, dadurch negative Aspekte meines Selbst preisgegeben zu haben. Vor allem wenn man bedenkt, dass die Geschichte erfunden war, meine Gefühle möglicherweise jedoch nicht. Ich kam zu keinem endgültigen Ergebnis, es kann schon sein, dass ich ein schlechter Mensch bin, aber wenigstens habe ich nach all den Jahren endlich eine Erklärung für die Bilder gefunden, welche von den Nachrichtenagenturen aus Nordkorea über den Tod von Kim Il Sung gebracht wurden: Dort gab es schreiende, weinende Menschen, die mitten auf der Straße Zuckungen und Anfälle bekamen oder ihre Köpfe gegen die Busfenster schlugen. Zu Beginn schienen mir alle verrückt zu sein, aber in Wahrheit (wie ich jetzt festgestellt habe), waren diese Menschen einfach nicht aus dem Kino herausgegangen. Ich dagegen konnte aufgrund der Freiheit, die ich besitze, die moralischen Kodexe, die mir ein guter Vampir-Film angeboten hatte, annehmen, aber sie auch wieder dort zurücklassen, und nach dem Verlassen des Kinosaals meine früheren Positionen wieder einnehmen. Diese Freiheit besitzen die Bewohner Nordkoreas nicht; sie leben innerhalb des Kinos.

Wie man weiß, sind die Filme, die die Regierungsparteien in Ländern ohne freie Wahlen zeigen, dazu bestimmt, um ihr Fortbestehen an der Macht zu rechtfertigen. Dank dessem wird die nationale Geschichte neu geschrieben, es entsteht ein Epos, der erzählt, wie die aktuelle Situation im Land entstanden ist, und es entstehen Riten zur Verehrung eines neuen Pantheons voller Helden-Darsteller jenes Epos. Als Resultat auf die Fiktion wird eine neue Realität geboren, die Menschen lernen, auf eine andere Art und Weise zu leben. Und wenn der „geliebte Führer“, das „verehrte Oberhaupt“ oder wie auch immer sich der verehrte Führer gerne nennen lassen will, stirbt, dann winden sie sich auf öffentlichen Straßen, als wären sie mit Chili vergiftet worden.

Die Fiktion kann auf viele verschiedene Arten Realität schaffen. Verschieden Studien haben gezeigt, dass beispielsweise die schulische Leistung zu einem großen Teil von der Erwartungshaltung der Lehrer abhängt. Ein Lehrer, der der Meinung ist, sein Schüler würde keinen Fortschritte machen, ist in der Lage diesen davon zu überzeugen und ihn zu einem mittelmäßigen Erwachsenen zu machen und umgekehrt ist es genauso möglich. Zusammengefasst heißt das, dass die Fiktion des Lehrers zur Realität des Schülers wird, als ob das Verhalten des einen die vorgeschrieben Umlaufbahn, in der sich der andere bewegt, definiert.

Es erübrigt sich darauf hinzuweisen, dass sowohl Automobile als auch Himmelskörper vorgeschrieben Umlaufbahnen haben. Alles, was existiert und real ist, und somit auch die Fiktion, die ja nichts weiter als ein Vortäuschung der Realität ist, folgt einem Kurs, der vorhersehbar ist,  also an eine bestimmte Logik gebunden. Und es ist auch gut, dass das alles so ist, denn das erlaubt beispielsweise die Existenz des Lebens, welches ebenfalls vorhersehbar ist; man weiß ganz genau wann der Regen kommt und wann es sonnige Tage geben wird.

Die erlebte Erfahrung der Menschen während eines Gedichtregens ist ähnlich fiktiv; sie sehen nicht einfach eine Menge Papier aus einem Helikopter fallen, sondern etwas viel Tiefgründigeres. Und tatsächlich interpretieren sie jedes Gedicht, das vom Himmel gefallen ist und das sie auffangen konnten, als eine direkte und personalisierte Botschaft. Sie glauben bereits an die Botschaft, bevor sie diese erhalten haben.

Auf der anderen Seite beeinflussen die Gedichteregen durch die Anerkennung und die Legitimation des Schmerzes, den die Stadt erfahren hat, die Art und Weise in der sich die Bewohner dieses Orts mit der Stadt und ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. So wie mein Kollege Cristóbal Bianchi ein paar Jahre, nachdem wir dort Gedichte abgeworfen hatten, wieder nach Guernica reiste und ein paar Jugendliche befragte, wie ihre Erinnerung an das Bombardement sei. Ihm wurde eine Gegenfrage gestellt: „Welches der beiden? Das von 1973 oder das von 2004?“ In Guernica wird es niemals wieder ein Bombardement geben. Man kann sagen, dass die beiden Ereignisse, das eine als Trauma und das andere als Heilung, das eine als schreckliche und erfühlbare Realität und das andere als Simulation dieser Realität, aber als Fiktion im umgekehrten Sinn, dass diese zwei Ereignisse sind miteinander verbunden sind. Sie brauchen einander wie die beiden Pole eines Magneten.

Wir erschaffen, genau wie die Regierung in Nordkorea, eine Fiktion, wir erschaffen die Illusion, dass die Poesie, die vom Himmel herunter an einen Ort kommt, der mit Schmerzen verbunden ist, von absolut komplexem symbolischem Wert ist, aber wie auch der Regisseur eines jeden guten Vampir-Films zwingen wir die Menschen nicht, diese Fiktion außerhalb des Kinos zu akzeptieren. Natürlich sollten sie sie akzeptieren, aber sie sollten sich deshalb nicht auf dem Boden wälzen.

Übersetzung:
Barbara Buxbaum

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MaschinenMilchMüll http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/maschinenmilchmull/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/maschinenmilchmull/#comments Mon, 29 Aug 2011 07:00:40 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4965 nach Heiner Müller

Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.

Beschirmt von Edelstahl, Glasbeton, Hartz IV. Dahinter mein Ekel. Er ist ein Privileg. Ich bin ein Privilegierter, der ich die Zeit habe, diesen Essay zu schreiben. Wir haben 1989 unsere Revolution gehabt, auch wenn es eigentlich nur eine Konterrevolution war; jetzt macht ihr erst einmal eure eigene. In der Einsamkeit der Flughäfen atme ich auf. Ein Königreich für einen Mörder ist H&M. Gelächter aus toten Bäuchen. In Blut, Feigheit und Dummheit erstickt die Würde die Hoffnung der Generationen. Die erniedrigten Körper der Frauen. Alle ohne die Würde des Messers, des Schlagrings, der Faust. Kurzum: Armut ohne Würde. Ein zugebauter Alexanderplatz, damit sich ein 1989 nicht mehr wiederholt. Gesichter mit den Narben der Konsumschlacht. Ein Streitwagen, der von den Werbetafeln blitzt, geh ich durch Straßen, Discounter …, die nie ein Machthaber betritt. Der tägliche Ekel vom Kampf um die Posten, Stimmen, Bankkonten. Der tägliche Ekel in die Visagen der Macher gekerbt. Ekel haftet den Lügen an, die geglaubt werden. Den Lügen, die von den Lügnern kommen, von niemandem sonst. Die Lügen, die geglaubt werden. Denn dein, mein Ekel, ist das Nichts. Unseren täglichen Mord gib uns nicht mehr heute. Unseren täglichen Mord gib uns wie das Abschalten jetzt, sofort. Wie buchstabiert man „Gemütlichkeit“? Ekel haftet dem präparierten Geschwätz des Power-Point-Deutschs in den Radios an, die den 8- bis 12-Stunden-Arbeitstakt vorgeben, haftet dem verordneten Frohsinn der Fanmeilen an (in den USA meint Public Viewing die öffentliche Aufbahrung eines Toten). Ekel haftet dem Fernsehen an, dem Internet, das aus nichts als Spinnen und Fliegen besteht. Ekel haftet allem an, was da noch kommt.

Einig mit meinem ungeteilten Selbst gehe ich nach Hause und schlage die Zeit tot. Die ausgestopften Zombies in den Pornos bewegen keine Hand. In ihren Vaginen verfaulen die Penisse. Die sozialen Netzwerke sind das Alibi einer Generation, die zu feige ist, um das, was man Protest nennt, auf die Straße zu tragen. Die Dichter haben ihre Gesichter in den Benutzerprofils ihrer Benutzerkonten hochgeladen. Die Gedichtbände sind verloren gegangen. Wortschleim absondernd in meiner schalldichten Sprechblase, aufatmend hinter der Flügeltür, blutend in der Menge hat sich meine Lyrik nicht verkauft. Ich bin die Datenbank. Meine lyrischen Ichs sind Speichel und Spucknapf, Messer und Wunde, Zahn und Gurgel, Hals und Strick. Ich füttere mit meinen Daten die Computer. Ich bin mein Gefangener.

Aus dem Ruf nach mehr Freiheit wird der Schrei nach dem Sturz der Regierung. Auf dem Balkon eines Regierungsgebäudes ein Mann mit schlecht sitzendem Anzug, der so lange redet, bis ihn der erste Stein trifft und er sich ebenfalls hinter die Tür aus Panzerglas zurückziehen muss. Gruppen bilden sich, aus denen Redner aufsteigen. Wenn sich der Zug dem Regierungsviertel nähert, kommt er an einer Polizeiabsperrung zum Stehen. Einzelne Polizisten, wenn sie im Weg sind, werden an den Straßenrand gespült. Langsame Fahrt einer Handykamera durch eine Einbahnstraße auf einen unwiderruflichen Parkplatz zu, der von bewaffneten Fußgängern umstellt ist. Die Straße gehört den Fußgängern. Während der Arbeitszeit und entgegen der Straßenverkehrsordnung. Der Aufstand beginnt immer als Spaziergang. Meine Lyrik, wenn sie sich noch verkaufen würde, verkaufte sich in der Zeit des Aufstands. Auf den Sturz der Metaphern folgt nach einer angemessenen Zeit immer der Aufstand.

Ich bin nicht H&M. Ich kaufe dort nicht ein. Ich schreibe nicht mehr mit … Eine Lyrik, die auch mich nicht mehr interessiert. Um mich herum werden, ohne dass ich gefragt worden bin, die alten Fassaden hochgezogen. Von Leuten, die meine Lyrik noch nie interessiert hat, für Leute, die sie nie etwas angehen wird. Eine überalterte Gesellschaft hat sich nie dem Tod gestellt. Die Sehnsucht nach der Monarchie ist ein Stadtschloss.

Gekleidet in mein Blut gehe ich auf die Straße. Ich grabe die Uhr aus meiner Brust, die mein Herz war. Ich werfe meine Kleidung ins Feuer. Ich lege Feuer an mein Gefängnis.

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Los Superdemokraticos trifft Latinale in Berlin http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/los-superdemokraticos-trifft-latinale-in-berlin/ Mon, 08 Nov 2010 12:00:06 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3181 los superdemokraticos gehen raus aus dem netz und betreten die echtzeit!

wir kooperieren mit dem lateinamerikanischen mobilen poesiefestival, latinale, und laden ein zu zwei veranstaltungen:

montag, 8.11., 20 uhr: literarischer battle zwischen latinale-dichtern und berliner dichterinnen und dichtern, froschkönig, weisestr. 17, berlin-neukölln. es moderieren die übersetzerinnen anne becker und barbara buxbaum.

dienstag, 9.11.,19 uhr: dichter und blogger: eine neue kulturelle identität im netz? podiumsdiskussion im ibero-amerikanischen institut, 19 uhr. es diskutieren lina meruane (chile), alan mills (guatemala), ezequiel zaidenwerg (argentinien) und rené hamann (deutschland). rery maldonado (los superdemokraticos) moderiert. konsekutivübersetzung von johanna richter.

eintritte frei! beide veranstaltungen zweisprachig.

wir freuen uns auf euch, hasta pronto!

saludos superdemokraticos, rery y nikola

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Dichter im Profil http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/espanol-poeta-de-perfil/ http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/espanol-poeta-de-perfil/#comments Sat, 09 Oct 2010 01:57:32 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2639

Erlaubt mir diese letzte, schamlose Übung. Heute möchte ich von Julio Barriga sprechen, dem ersten wahren Künstler, den ich kennen gelernt habe. 1995 entdeckte ich seinen Namen in der Literaturbeilage einer heute nicht mehr existierenden Lokalzeitung. Er tauchte als Herausgeber der Beilage Eventual auf (ich wusste noch nicht, dass in diesem Titel der Wesenszug seines flüchtigen Enthusiasmus – eventuell –  steckte, der ihn in merkwürdigen Ausnahmefällen zum Handeln bewegte). Der Inhalt war exquisit, ironisch und fast schon revolutionär für eine konservative und scheinheilige Stadt. Es erschienen nur vier Ausgaben (ein Monat) der Beilage. Von der Neugierde getrieben fragte ich nach ihm in einer winzigen, verruchten Kneipe (die von einem trotzkistischen Theaterliebhaber geführt wurde), in der sich Exemplare einer sehr vielfältigen und vom Aussterben bedrohten Fauna trafen, die ich wie alte Bekannte zu behandeln begann, ganz dem Ausspruch von Monterroso folgend: „Die Zwerge haben eine Art sechsten Sinn, mit dem sie sich auf den ersten Blick erkennen“. Man sagte mir, dass dieser Barriga auch oft in die trotzkistische Theater-Kneipe kam, aber ich war ihm noch nie dort begegnet. Eines Tages zeigten sie ihn mir. Er sah aus wie Edgar Allen Poe („Edgar Allan guckt mich aus dem Spiegel an“) und als ich auf ihn zuging, störte er sich daran, dass ich ihn siezte. Ich fing an, ihn oft aufzusuchen, und um mich los zu werden, lieh er mir Bücher, die mich begeistert oder verstört zurück ließen. Barriga hatte damals schon seine zwei ersten Bücher veröffentlicht: El fuego está cortado (Das Feuer ist abgeschnitten) (das mit einer Variation des „make a mask“ von Dylan Thomas anfängt: „Mach mir eine Maske/ denn ich bin einsam und möchte mich noch einsamer fühlen“) und dem sehr kurzen Aforismos desaforados (Rabiate Aphorismen).

Aus einer Dorflehrerfamilie stammend waren Bücher seit seiner Kindheit Teil seines Lebens gewesen und nachdem er zwei Familien aufgebaut und wieder demontiert hatte, zog er sich hinter die Maske des Berufs zurück, den er mit vielen Jobs (in Tarija, La Paz, Salta und Mendoza) vor sich her geschoben hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte er schon ein drittes Buch fertig gestellt, Versos perversos (Perverse Verse) (eigentlich so lang wie drei Bücher), das geradezu niederschmetternd kühl war (so wie ein Schatten in einer sehr dunklen Ecke). Eine Art Tagebuch seiner Unruhe („allein ich schicke mir/ dringliche Briefe an mich selbst“). Es interessierte ihn nicht, das Buch zu veröffentlichen, und es dauerte noch zehn Jahre, bis andere davon erfahren durften, was wir längst schon wussten. Sein variationsreicher Stil hatte eine Tendenz zum Erzählerischen, zwischen Barockem und mündlichen Straßenjargon, war wirr durch falsche oder aus dem Kontext gerissene Zitate und er bediente sich ohne Unterschied der „Hochkultur“ wie der Massenmedien. In diesen Gedichten sprach er von seiner permanenten Beklemmung, von seinen Freunden, von seinem Fahrrad, von Städten, die sich ihm ins Mark gebrannt hatten, von seinem Viertel, von der Einsamkeit, von der ewigen Gegenwart des Alkohols. Dank dieser Gedichte wuchs sein fast geheimer Ruhm (für mich gehört er zusammen mit Humberto Quino und Juan Cristóbal MacLean zu den drei besten lebenden bolivianischen Lyrikern). Außerdem hatte er dieses unnachgiebige ethische Credo „wie ein Dichter zu leben“ (ein Drang, das irdische Dasein intensiv und zuneigungslos zu leben, mit der gewaltvollen Passivität eines Bartleby), das eine performative Stütze des geschriebenen Werks zu sein schien. Ein Typ, der sich vor allem für das gerade aus der Mode gekommene interessiert (derzeit, beispielsweise, die Disketten) und der zu einer extrem pessimistischen Skepsis in der Lage ist („ich bin dazu verdammt, eine geschmacklose Existenz zu verlängern/ bis zum Ende seiner sich wiederholenden Momente“) und auch dazu, sich dreist über alles lustig zu machen, besonders über sich selbst („Was würde ich machen, wenn ich Gott wäre?: Abdanken“) Ein Typ, der in die Pedale tritt, um vor dem Horror zu fliehen und der aus der größten Tiefe seiner persönlichen Finsternis Funken von Klarheit hervorholt („Ich bin ein Zentaur der Einsamkeit/ und die Brillengläser der Landstraße, Ramón“).

Aus dieser Illusion einer geteilten Vergangenheit, die die Freundschaft schafft, habe ich 2008 sein Buch Cuaderno de Sombra (Heft des Schattens) verlegt, in welchem er den Ton ändert, indem er die Stimme eines befreundeten Dichters, Roberto Echazú, annimmt, der gerade gestorben war. Das, was Bloom Apofraden nennen würde. In diesem rigorosen Trauerbuch, unterhält sich Barriga mit sich selbst aber auch mit Roberto, mit dem er den Beruf, den Alkohol und die Vorliebe für das Erhellen der dunklen Seite der nahen Dinge teilte. Ich habe dabei nicht nur ein paar zentrale Grundsätze im Verlegen von Büchern gelernt, sondern bin auch mit einer bestimmten Art und Weise des in der Welt seins in Kontakt gekommen: sein eigenes Schicksal anzunehmen. Barriga hat, wie ein verschwiegener Mönch, schon zu vielen Dingen Lebwohl gesagt und Hallo! zum Tod. Vor einer Woche habe ich ihn gesehen und er sieht aus wie immer, er lebt weiterhin nach seinem eigenen Kodex und zu diesem Zeitpunkt wird er sich nicht mehr ändern, zum Glück.

Übersetzung: Anne Becker

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Ich werde nicht zur Frankfurter Buchmesse gehen http://superdemokraticos.com/themen/buchmesse/ich-werde-nicht-zur-frankfurter-buchmesse-gehen/ Wed, 06 Oct 2010 12:00:08 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2527

Deutsche und argentinische Gastblogger berichten für Los Superdemokraticos über die Frankfurter Buchmesse. Die Lyrikerin, Übersetzerin, Kuratorin und Bloggerin Cecilia Pavón lebt eigentlich in Buenos Aires, aber ist derzeit mit einem Übersetzerstipendium in der Schweiz. Falls Sie heute Abend in Wien sein sollten, können Sie ihr um 19 Uhr bei ihrem Vortrag Poesie ist kein Projekt zuhören.

Ich setze die Welt der Kultur in Anführungszeichen, denn ich weiß nicht, ob mein Werdegang wirklich etwas mit der Welt der „Kultur“ zu tun hat. Die Frankfurter Buchmesse ist ganz klar die Welt der Kultur. Ich hatte einen „Kunstraum“, der vor allem ein Geschenkeladen war. Wir stellten zwar Bilder aus, verkauften aber Geschenke, Schnickschnack, der (sehr billig) aus China  importiert wurde, und wir publizierten Gedichtbände aus Fotokopien, hergestellt in großer Eile. Einige davon wurden morgens geschrieben und waren nachmittags bereits veröffentlicht.

Ich weiß auch nicht, ob diese Poesie, die wir publizierten, etwas mit der Welt der Kultur zu tun hatte. Es war etwas sehr triebhaftes, ich weiß nicht, bis zu welchem Punkt das Triebhafte mit der Welt der Kultur zu tun hat. (Ich habe einen Account bei Twitter auf den Namen „postcultura“.) In Wien, wohin mich die Akademie der Bildenden Künste zu einem Gespräch über meine Arbeit als Autorin und andere Themen, die in Zusammenhang mit der „kulturellen Welt“ stehen, eingeladen hat, werde ich auch über Tu Rito sprechen, einen neuen Kunstraum in Buenos Aires, bei dem ich mitmache. Er befindet sich in einer Straßengalerie, unten in der Avenida Santa Fe und die Miete ist sehr günstig, wir zahlen sie, mehrere Leute gemeinsam, von dem Geld, das uns am Ende jedes Monats übrigbleibt. Dort veranstalten wir Lesungen, bei denen die Poeten manchmal keine wahren Poeten sind oder bei denen sich die Gedichte zu Bildern transformieren, und man sie an der Wand hängend lesen muss. Am Ende von manchen Lesungen verbrennen wir die Gedichte in einem Lagerfeuer, das wir auf dem Hof machen, damit die Wünsche, die in den Gedichten ausgedrückt werden, in Erfüllung gehen. Manchmal frage ich mich wie groß die tatsächliche Entfernung zwischen der Frankfurter Buchmesse (und dem, für das sie steht, dem zeitgenössischen Verlagsmarkt) und vielen von den Dingen, die ich im Leben gemacht habe, ist. In Wahrheit ist die Frage eher ein Wunsch: ich würde gerne Literatur schreiben, die weit von der Frankfurter Buchmesse und dem Verlagsmarkt und seiner Bürokratie entfernt ist. Neulich habe ich bei einem Workshop den zuständigen Herausgeber für Lateinamerika von Suhrkamp kennengelernt und ihn gefragt: Können Sie sich vorstellen, was passiert wäre, wenn Kafka einen Lektor gehabt hätte, der ihn jedes Mal kritisiert hätte, wenn er gerade angefangen hätte, ein Buch zu schreiben?

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Wer bläst den Globus auf? Eine Umfrage http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/wer-blast-den-globus-auf-eine-umfrage/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/wer-blast-den-globus-auf-eine-umfrage/#comments Wed, 22 Sep 2010 06:22:55 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2088 Anleitung: Wählen Sie für jede Frage eine Antwortmöglichkeit und fügen Sie diese in das Feld für Kommentare ein. Fühlen Sie sich frei, eine kurze, persönliche Erklärung dazu abzugeben, falls Sie das für nötig halten.

1- Hat in einer globalisierten Welt ein Poet, der auf Englisch schreibt, irgendeinen Vorteil gegenüber einem Poeten, der auf irgendeiner anderen, viel weniger verbreiteten Sprache schreibt?

a)      Ja.

b)      Nein.

c)      Nein, vorausgesetzt, der Poet aus der anderen Sprache wird nachträglich ins Englische übersetzt.

d)     Der Poet, der auf einer Minderheitensprache schreibt, hat einen Vorteil gegenüber dem Poeten, der auf Englisch schreibt, denn die globalisierte Welt strebt nach Pluralität und Multikulturalität, und deshalb wird er durch positive Diskriminierung begünstigt.

2- Wenn sich ein portugiesischer Dichter (wie es Pessoa eines Tages tat) dafür entscheidet, Gedichte auf Englisch zu verfassen, verliehe diese idiomatische Entscheidung seinem Werk einen Hauch von:

a)      Internationalität.

b)      Globalität.

c)      Universalität.

d)     Kosmopolitismus.

3- Wenn sich ein mexikanischer Dichter (wie es Pessoa eines Tages tat) dafür entscheidet, Gedichte auf Englisch zu verfassen, verliehe diese idiomatische Entscheidung seinem Werk einen Hauch von:

a)      Immigrant.

b)      Verdächtig.

c)      Pro Yankee.

d)     Globalophil.

e)      Pessoaesk.

4- In wie viele Sprachen muss ein Gedicht übersetzt werden, um ein globalisiertes Gedicht zu sein?

a)      Die Übersetzung ins Englische, falls es auf einer anderen Sprache geschrieben wurde, ist absolut ausreichend.

b)      Mindestens in drei westliche und eine fernöstliche Sprache.

c)      Mindestens in zehn indigene Sprachen.

d)     Es hängt nicht von der Übersetzung, sondern von der Verbreitung ab.

5- Ein globalisiertes Gedicht ist in letzter Instanz:

a)      Ein multikulturelles Gut.

b)      Universelle Literatur.

c)      Eine Ware.

d)     Eine Utopie.

6- Welches Gedicht passt besser zu der Idee von einer globalisierten Welt?

a)      Ein Gedicht, das auf mehreren Sprachen verfasst wurde, sich auf verschiedene Kulturen bezieht und in der Lokalzeitung eines kleinen, ländlichen Dorfes erscheint.

b)      Ein hypertextuelles Gedicht, veröffentlicht auf einem dunklen, privaten Blog.

c)      Ein Sonett eines berühmten, US-amerikanischen Dichters, der gerade mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde.

d)     Ein Gedicht, das auf irgendeiner indigenen Sprache verfasst wurde, sagen wir auf Tzotzil, und bei einem internationalen Poesiefestival in Paris verlesen wird, an dem 100 Personen teilnehmen.

7- Wenn der Autor des Gedichtes auf Tzotzil aus Antwort d) der vorherigen Frage sich entscheidet, in Paris zu bleiben, wird er zu:

a)      Einem internationalen Poeten.

b)      Einem Produkt der Globalisierung.

c)      Einem illegalen Einwanderer.

d)     Einem Problem für die Veranstalter des Festivals.

8- Angenommen, Sie hätten als Publikum bei diesem angenommenen internationalen Poesiefestival teilgenommen (bei dem unser mittlerweile geschätzter Autor des Gedichtes auf Tzotzil aufgetreten ist) und, natürlich nur angenommen, dass wir von nationaler Literatur sprechen könnten und uns darüber bewusst sind, dass wir vermutlich in der Annahme einer vermutlich globalisierten Welt leben: Für welchen Dichter hätten Sie mehr applaudiert?

a)      Für einen mexikanischen Dichter, dessen Gedichte wirken, als wären sie von einem US-amerikanischen Dichter verfasst worden.

b)      Für einen US-amerikanischen Dichter, dessen Gedichte wirken, als wären sie von einem kubanischen Dichter verfasst worden.

c)      Für einen deutschen Dichter, dessen Gedichte wirken, als wären sie von einem deutschen Dichter verfasst worden.

d)     Für den Autor des Gedichtes auf Tzotzil, obwohl Sie nichts von dem verstanden hätten, was er gelesen hat (und möglicherweise genau deswegen).

e)      Sie würden für sich selbst applaudieren, da Sie ohne Murren eine Lesung von über einer Stunde ertragen haben, die voll von fatalen Vorträgen war, die glücklicherweise jeglicher weltlicher Transzendenz entbehrten, denn Poesie interessiert ja sowieso keinen.

9- Was, glauben Sie, verbirgt sich hinter der offensichtlichen Unschuld eines internationalen Poesiefestivals:

a)      Eine globalophobe Gruppierung, die vorgibt, die Verschiedenheiten und die Regionalismen zu betonen, indem sie die unterschiedlichen Nationalitäten ihrer eingeladenen Dichten hervorhebt, als Akt des geheimen Widerstands.

b)      Eine globalophile Gruppierung, die eine internationale Handvoll Dichter eingeladen hat, aus reiner Geilheit auf exotische Waren, genau wie bei diesen asiatischen Soßen, über die sie jedes Mal so sehr in Aufregung geraten, wenn sie in den Supermarkt gehen.

c)      Eine weder globalophobe noch globalophile Gruppierung, sondern lediglich eine Gruppe von gelangweilten Menschen, die versuchen, ihrem Leben einen Sinn zu verleihen, so armselig dieses auch sein mag.

d)     Eine Gruppe Dichter, die andere Dichter in ihr Land einlädt, in der Hoffnung, dass diese sie ebenfalls einladen und in den jeweiligen Ländern empfangen werden: ein Zweig von dem, was man nun allgemein Fairtrade nennt, eine billige Art des Reisens, literarischer Tourismus, zusammengefasst, eine Gruppe dahergelaufener und opportunistischer Dichter.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Axolotl Cyborg http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/axolotl-cyborg/ http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/axolotl-cyborg/#comments Thu, 16 Sep 2010 06:25:16 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1789

Axolotl. Foto: Ethan Hein, http://www.flickr.com/photos/ethanhein/

Ich bin mir sicher, dass sich niemand von euch jemals die Frage gestellt hat, wie die Globalisierung von einen Axolotl, der aus seinem natürlichen Lebensraum entführt wurde, wahrgenommen wird, und der nun in diesem Fischglas, das ich ihm mit viel Liebe hergerichtet habe, lebt.

Die erste Frage, die dem Tierchen bestimmt in den Kopf kommt, ist die nach dem Ursprung meiner Grausamkeit. Aus welchem Grund ich ihn wohl aus seinem wunderschönen Zuhause in der Lagune von Chapultepec, Mexiko, herausgerissen habe, um ihn an diesen kalten, geschlossenen Raum in Guatemala Stadt zu bringen. Er wird auch nie gänzlich diese Geräusche verstehen, die sich durch das Wasser schleichen und ein bisschen Wellengang verursachen. Er zieht es vor, wenn ich ganz laut ganz harte Musik aufdrehe, dann kann er kleine Kunststücke aus seiner Zeit als Surfer in den Pfützen aufführen. Bei Cannibal Corpse flippt er aus. Bei der nationalen Musik steht er auf Evilminded, auf jeden Fall.

Mein Akzent und der meiner Freunde kommt dem kleinen mexikanischen Salamander nicht ganz so fremd vor. Ab und zu benutzen wir den Ausdruck „pinche“ (mex. für unwichtig, scheiße) und es kommt sogar vor, das wir „buey” (mex. für Alter) als Abschluss des Satzes sagen. Auch Rancheras singen wir ganz gut. Und wenn auch nicht ganz so gut, dann wenigstens mit derselben Leidenschaft. Das machte den Umzug für ihn etwas weniger traumatisch. Hier schlagen Los Tigres del Norte auch ein. Klar, wenn wir dann sehr betrunken sind, wollen wir auch „Unseres“ wieder aus kramen und tanzen einen Danzón, zu irgendeinem Stück (das Land der schönen Frauen und der Marimba, sagt man) von Checha y su India Maya Caballero.

Dieser Axolotl ernährt sich von der Musik und der giftigen Strahlung, die der Tagebau in diesen Gebieten hinterlässt. Dank dieser hat er die Fähigkeiten Lesen und Im-Internet-Surfen entwickelt, ohne auch nur eine Tastatur zu benötigen. Ich lebe mit einem telepathischen Froschlurch und er liebt es, in meinen Emails herumzuschnüffeln. Meine Korrespondenz findet er sehr unterhaltsam, mit all ihren Verwirrungen und Leidenschaften. Er taucht in meinen Twitter und vertreibt sich die Zeit damit, die Texte zu lesen, die ich als Forschungsmaterial für den Roman sammle, den ich gerade vorbereite. Es begeistert ihn, alles bezüglich des Transhumanismus und dessen Möglichkeiten als Werkzeug zur Aktivierung einer neuen Form des globalen menschlichen Bewusstseins zu lesen. Er überdenkt und debattiert mit sich selbst ziemlich komplexe Problematiken: ob die Hypervernetzung zum Web der erste Schritt zur Entwicklung eines kollektiven Gehirns ist; ob er der erste Replikant einer neuen Rasse, Axolotl Cyborg, ist; ob ich in Wirklichkeit gar nicht existiere und lediglich ein Hologramm seines Bewusstseins bin.

Plötzlich blickt mir der Axolotl in die Augen, spielt eine Szene aus dieser Erzählung von Cortázar nach. Er fragt sich, ob mit uns dasselbe passiert ist, wie mit diesen Figuren, und ob ich jetzt in seinem Körper stecke und unter seiner so dünnen Haut denke. Ich stelle mir die gleiche Frage, während ich zusehe, wie er sich dreht und einen spektakulären halben Salto macht, der gefährlich nahe daran herankommt, das Universum wieder instandzusetzen. Ich atme ein und aus, und beruhige mich. Ich bin immer noch auf dieser Seite des Fischglases.

Für meinen fluoreszierenden Salamander ist die Sache mit den Sprachen nicht so ganz klar. Regelmäßig vergisst er die Sprache, in der er einen Text gelesen hat, der ihn dazu veranlasst zu denken, dass das Gehirn die Ideen in einem Code versorgt, der nicht notwendigerweise linguistisch ist.Vor kurzem wollte er ein paar farbigen Fischchen erzählen, dass die Poesie der historische (genetische) Mechanismus ist, den wir benutzen, um die Gestaltung dessen, was wir als materielle Realität wahrnehmen, in Frage zu stellen. Das wir uns durch sie, die Poesie, weiterentwickeln. Danach zitierte er elegant ein japanisches Haiku, das eine kleine Reihe von Blasen auslöste. Aber, echt, er hat all das in so einem ernsten und phlegmatischen Tonfall gesagt (wie ein deutscher Philosoph), dass mir das Desinteresse der Fische sehr lustig erschien. Diese Armen wissen ja kaum, ob sie im 21. Jahrhundert oder im Paläolithikum leben. Und, wo wir schon dabei sind, das Siglo de Oro oder die Romantik ist ihnen auch scheißegal.

Mein Axolotl Cyborg wurde durch zu viel Kabelfernsehen schlussendlich von der Werbung erobert.

Er hat sogar ein exzellentes Produkt entwickelt, eine Erfindung, etwas, das er gerne vermarkten würde: eine Serie von Bucheinschlägen von Thomas Pynchon, worin die farbigen Fische ihre Bücher von Paulo Coelho einbinden können. Damit können sie diese lesen, ohne der Diskriminierung der Hipster-Umgebung zum Opfer zu fallen. Ich informiere ihn darüber, dass seine Initiative in diesem Land nicht sehr erfolgversprechend ist, denn die Leute ziehen es sowieso vor, gar nicht zu lesen. Hier ist es hip, nichts zu wissen und zu Partys zu gehen, electroclash. Der Axolotl erschreckt sich, und ich muss ihm versprechen, dass er mich bei meiner nächsten Reise nach Buenos Aires begleiten darf, damit er durch die Buchläden planschen kann. Es gibt dort ein paar sehr gute, erzähle ich ihm.

Ja, dieses Tierchen hat sich langsam zu einem Zyniker und einem Frechdachs entwickelt. Aber die Wahrheit ist, ich akzeptiere ihn so wie er ist, mit all seinen Fehlern. Das ist das mindeste was ich tun kann, bei dem Schaden, den ich ihm zugefügt habe – ihn aus seiner idyllischen natürlichen Umgebung zu reißen (wo er mit Kaulquappen und Industriemüll zusammengelebt hat) und ihn hierher zu bringen, um in einer neuen Landschaft zu leben: in einem Habitat, das aus einem durchsichtigen Fischglas besteht und gegenüber von ein paar Bildschirmen aufgestellt ist.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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ohne familie kann man leben http://superdemokraticos.com/themen/burger/ohne-familie-kann-man-leben/ Mon, 30 Aug 2010 07:00:20 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1269 Aktivismus, Poesie, Familie, Musik…

In meinem Leben gibt es zwei große Pfade, die sich nicht voneinander trennen lassen: der eine ist der soziale und kulturelle Aktivismus, der andere die Poesie.

Ausgehend von diesen Grundlagen, erschaffe ich mir meine Welt. Ich bin Teil eines künstlerischen und sozialen Kollektivs, das es mir teilweise ermöglicht, beide Pfade gemeinsam zu verfolgen, aber gleichzeitig und in bestimmten Momenten prallen sie in mir aufeinander: das Öffentliche und das Private.

Mit dem Kollektiv Yonofui praktiziere ich sozialen Aktivismus. Wir arbeiten mit Frauen in Gefängnissen, kooperieren mit anderen sozialen Organisationen und staatlichen Einrichtungen, um einen Politikwechsel herbeizuführen. Beispielsweise in Bezug auf Hausarrest, die „Allgemeine Zuwendung für das Kind“ (eine im Jahr 2009 in Argentinien eingeführte Form von Kindergeld für Mittellose, Anm. d. Ü.), den Zugang zum Arbeitsmarkt, die Gesundheit usw.

Es geht darum, ein neues politisches und kulturelles Bewusstsein zu erschaffen.

In den Gefängnissen koordiniere ich Werkstätten zu Poesie und eine zu Briefliteratur, und wir realisieren viele Kunstprojekte, Ausstellungen, wir publizieren Bücher, Platten und Fanzines. In einem Monat wird das dritte Poesiefestival in einer Haftanstalt stattfinden, an dem um die 20 geladene Dichter, Musiker und eine große Menge von Menschen teilnehmen und einen Tag mit Poesie in der Einheit 31 von Ezeiza (ein Frauengefängnis in Buenos Aires, Anm. d. Ü.) verbringen werden.

Auf der anderen Seite ist der Ort, an dem wir arbeiten, ein zurückgewonnener Raum, eine nachbarschaftliche Versammlung, die inmitten der Krise im Jahr 2001 entstanden ist und zur Zeit mit der Stadtverwaltung im Konflikt steht, die kulturelle, gemeinschaftlich genutzte Räume zerstören möchten. Auch hier, als Mitglied dieses Kollektivs, das das Kulturzentrum Bonpland bildet, nehme ich aktiv an Aktionen teil, um diese Freiräume zu schützen.

Und manchmal erschweren all diese Aktivitäten den stillen Akt der Poesie. Man surft durch die Sitzungen, die dringenden Notwendigkeiten, mit denen wir es zu tun haben, mit den ewigen Reisen zu den Haftanstalten, um jene so zufriedenstellenden Momente zu finden, die uns das Schreiben schenkt.

Vielleicht ist es deshalb so, dass meine Poesie von diesen Konflikten durchzogen ist, von diesen Realitäten, die Teil meines alltäglichen Lebens sind. Wenn ich darüber nachdenke, was das Wichtigste in meinem Leben ist, ob der Aktivismus oder die Poesie, so fällt mir die Entscheidung schwer. Für mich gehören sie zusammen, und nicht, weil ich der Ansicht bin, dass es für alle so sein sollte. Ich glaube nicht, dass der Künstler dazu verpflichtet ist, sich in sozialen Konflikten zu engagieren, und nichts dergleichen. Das ist, was allein mit mir geschieht und es hat mit meiner persönlichen Geschichte zu tun, mit meinen Entscheidungen.

Ich genieße es auch sehr, Projekte ins Leben zu rufen, die sich mit Poesie, mit Kunst beschäftigen, und so entstand Voy a Salir y si me Hiere un Rayo (Ich gehe raus und wenn mich ein Blitz trifft), ein kleiner Verlag für Poesie und ein Literaturvertrieb, der entstand, um den Produktionen unabhängiger Verlage größere Sichtbarkeit zu verschaffen und sie in Umlauf zu bringen. In diesen Tagen werden wir, gemeinsam mit ein paar Freunden, die eine sehr alte und wunderschöne Druckerpresse haben, eine Reihe von Poesieblättchen herausbringen. Wir ließen uns auf dieses Projekt, das aus eigener Kraft entstanden ist, ein, und es macht mich glücklich, es erfüllt mich mit einer freudigen Energie, trotz aller Unbarmherzigkeit dieser Zeiten, solche Projekte und solche Räume künstlerischer Reflexion hervorbringen zu können.

Und, ja, ohne Familie kann man leben, aber ohne die Musik definitiv NICHT!

Und ohne Liebe auch nicht.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Sagmirwasdufühlstismus http://superdemokraticos.com/themen/koerper/sagmirwasdufuhlstismus/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/sagmirwasdufuhlstismus/#comments Mon, 26 Jul 2010 18:44:50 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=528 „Da wir glauben, Fragen der Sexualität seien Privatangelegenheiten, hören wir auf, sie in ihrer sozialen und politischen Dimension wahrzunehmen.“ G. Louro

Im Fernsehen verschlingt ein Junge, der Bastian heißt, ein Buch. Sein Gesicht trägt den verstörten Ausdruck eines Abenteurers, der sich in der Wüste verlaufen hat und dem nur noch wenige Seiten in der Feldflasche verblieben sind, der junge Held bedeckt seinen Rücken mit einer Decke, weil die Welt der Fantasie durch das Dach verschwindet, durch das Nichts verwüstet wird und… Werbepause.

Ich erkenne meinen Körper, putze mir freiwillig die Zähne, schlafe alleine, ohne Angst zu haben, ahme die Sänger im Radio nach, wenn niemand da ist, ich durchlebe eine Phase zwanghaften Lügens und Stehlens, entwickle meine persönliche Vorstellung von Gut und Böse. Entscheidende Augenblicke für die Herausbildung der ersten Intimität: der eigenen. Jede Person müsste über solch eine Umgebung verfügen und sie nach Belieben schmücken dürfen, um anschließend Besuch empfangen und sich noch später ein erfülltes, gesundes und geteiltes Heim einrichten zu können. Nachdem der Mensch den infantilen Solipsismus überwunden hat, erreicht er – paradoxerweise – während der Pubertät den Lebensabschnitt „Nur du existierst“.

Meine liebsten Tischgespräche mit jemandem, den ich soeben erst kennen gelernt habe, handeln von der Intimität. „Erzähl mir ein Geheimnis, etwas, von dem ich nicht weiß, und reißen wir ohne lange Vorreden dieses von der Gesellschaft gesäte Kraftfeld ein. Etwas, das du noch nie jemandem erzählt hast, sprich über dein erstes oder dein letztes Mal, von deinen immer wiederkehrenden Träumen. Beichte mir, ob du dich einsam oder elend fühlst, ich werde nicht flüchten. Verkünde, dass du ein glücklicher Mann bist und keine Hemden trägst, das muss gesagt werden.“

Der „Sagwasdufühlstismus“, eine polemische Bewegung, die mir Freude und Gemeinschaft einbrachte, wie auch Unverständnis und ungemütliche (lustige) Situationen, die so weit gingen, dass ich mich eines bestimmten Tages betreten beklagte: „Wenn mir jedes Mal ein Dollar gegeben würde, weil ich alles sage, was ich fühle, würde ich mich in diesem Moment vielleicht besser fühlen.“ Guacira Louro sagt hierzu: „Die Fragen, die Fantasien, die Zweifel und das Experimentieren mit der Lust werden ins Geheime und Private verwiesen. Wir erlernen die Scham und die Schuld, experimentieren mit Zensur und Kontrolle durch die multiplen disziplinierenden Strategien.“

Über Jahrhunderte hinweg mussten Frauen „Anstand wahren“, und bis heute schüchtert es das puritanische Subjekt ein, wenn eine Dame offen über ihr Sexualleben spricht. Das erinnert mich an das wunderschöne Lied von Chabuca Granda „Cardo o ceniza“ (Distel oder Asche), in dem die Dichterin die außergewöhnliche Episode einer passionierten Hingabe schildert und in der letzten Strophe, beschämt von der vollständigen Hemmungslosigkeit der vorangegangenen Nacht, neben ihrem Geliebten aufwacht.

Wenn ich dichte und jemandem, der mir nahe steht, die Gedichte zeige, und später, wenn ich sie veröffentliche, wenn ich sie lese, finde ich die eindringliche Intimität in der Poesie. Indem wir mit der Logik und Sensibilität des Künstlers fließen, folgen wir dem Labyrinth, das er in einem magischen und einsamen Moment zeichnete.

Die Mittäterschaft, in der man sich desselben Deliktes unschuldig weiß, bringt einsame Kenner eines schlechten Witzes, einzige Gäste eines verwunschenen Hotels hervor. Es weiche das magnetische Feld, öffnen wir die Türe. Geheimnisse ohne Beichtstuhl.

Der Intimismus wird zu einem Ismus des Gleichen: einen Teller Essen, den Dessertlöffel, die Keime, das Bett miteinander teilen, den Arm ausreißen, der den Arm, der verschwindet, lähmt.

Schon immer wollte ich mein Bankgeheimnis lüften, damit ihr und ich intim sein können, ohne Angst davor zu haben, auf das glamouröse Tuch des Geheimnisses zu verzichten, das mich wie ein aus Gefühlen bestehender Schleier der Frauen Limas schmückt, da das Geheimnis über vielfältige Instanzen und ein eigenes Ministerium im Inneren verfügt. Viele Aspekte müssen übereinstimmen, bevor darüber entschieden wird, dass es sich in eine Party für zwei verwandelt. Nicht jede macht einen Ausflug zu sich selber, und noch seltener wird man regelmäßig zu einem Reisenden, wenn ich mir schließlich die Tätowierung von der Stirn entferne, die besagt: „Liebe den wilden Schwan“ („Ama al cisne salvaje“, Gedicht von Luis Rogelio Nogueras, Anm.d.Übers.), und ich verstehe das durchsichtige Kostüm als ausgepacktes Geschenk, das vor den Augen des riesigen Kindes erstrahlt.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Verlorene Paradiese http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/verlorene-paradiese/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/verlorene-paradiese/#comments Fri, 09 Jul 2010 16:26:20 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=444 Da ich ja schon wusste, was mir passieren wird, habe ich versucht, das Lesen der letzten Seiten so lange wie möglich hinauszuzögern. Aber gestern Nacht habe ich es einfach nicht mehr ausgehalten und Die Grasharfe von Truman Capote zu Ende gelesen. Es ist immer das Gleiche: Jedes Mal, wenn ich einen Roman zu Ende lese (oder wenn ich eine der Miniserien, die mein Verderben geworden sind, zu Ende gesehen habe), überfällt mich eine Art Melancholie. Ich will das jetzt nicht dramatischer darstellen, als es ist: Es handelt sich um ein vages Gefühl der Leere, das ich wieder loswerde, indem ich die Teller vom Abendessen abwasche oder wenn das Telefon klingelt.

Aber dieses vage Gefühl des Verlusts kommt hier zur Sprache, weil das Ende der Geschichte mich in eine Gegenwart stürzt, die ich für einen Moment sinnfrei finde. Sagen wir mal, die Zeit der Erzählung wäre eine historische Zeit: Sie schreitet voran, immer weiter. Jedes Mal also, wenn ich einen Roman zu Ende gelesen habe oder das Ende einer Miniserie gesehen habe, erlebe ich einen kleinen Teil von dem, was manche den Weltuntergang nennen, diese andere Geschichte. Ja, natürlich übertreibe ich! Und natürlich kann man ein gutes Buch immer wieder lesen, aber man muss auch sagen, dass das ein schwacher Trost ist: Das Buch ist Teil der eigenen Vergangenheit geworden und man kehrt zu ihm zurück, wie man an einen bekannten Ort zurückkehrt: ein verlorenes Paradies.

Mit der Poesie geht mir das nicht so. Ein Gedicht verlangt von einem, dass man sich ihm immer und immer wieder zuwendet. Traurig zu werden, weil ein Gedichtband zu Ende ist, wäre so, als ob man traurig wäre, wenn eine CD aus ist. Lächerlich. Eine CD, die wir so oft einlegen können, wie wir wollen: Genau so ist ein Gedichtband. Die Zeit der Lieder ist die Zeit der Gedichte: die sich wiederholende, besser gesagt mythische Zeit, dessen, was immer wiederkehrt. Als Exempel dafür halte ich die CD für erstaunlich: Sie eignet sich die sich wiederholende Zeit an: Sie ist rund: Sie dreht sich. Und man macht immer das selbe Lied an.

Vor einigen Jahren habe ich begeistert María Zambrano gelesen – und ich muss zugeben, das gefällt mir jeden Tag weniger. Dennoch bin ich immer noch fasziniert von ihrer Interpretation der Schöpfungsgeschichte. Für sie besteht die Erbsünde darin, in die Falle der Zukunft getappt zu sein. So sagt die Schlange: „(…) und ihr werdet wie Götter sein.“ Das Problem liegt an der Zeitform, in der das Verb konjugiert wurde. Adam und Eva fielen auf die Idee einer besseren Zukunft herein, das heißt, auf die Logik des Fortschritts und verloren damit den Genuss des Moments, und somit das Paradies. Die Zeit spaltet sich: die Vorstellung einer Zukunft wird geboren und damit die Vorstellung einer Vergangenheit. Das ist der Anfang der Geschichte.
Es stimmt, jedes Mal wenn ich einen Roman zu Ende lese, ist es das Ende der Geschichte, aber auch der Anfang: die Vertreibung aus einem Paradies. Und ich finde mich immer am selben Ort wieder: in einer leeren Gegenwart, für die ich einen Sinn erfinden muss, um sie wieder tolerieren zu können (nichts im Vergleich mit dem Genuss des Moments). Das heißt, ich muss sie in die Geschichte integrieren, sie zu einer Erzählung verarbeiten: Wie anstrengend! Ich mach lieber den Fernseher an.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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