libertad – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Am fliehenden Rand der Flucht http://superdemokraticos.com/themen/neue-welt-im-netz/am-fliehenden-rand-der-flucht/ Mon, 21 Nov 2011 07:34:10 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5838 Das Netz lauert. Es registriert jede Bewegung. So wie im Frost jede Bewegung durch Kontakt mit der kalten Luft schmerzt, macht auch das Internet jede Bewegung kristallin, sichtbar, vereinzelt, erstarrt. Bögen, die mich früher trugen, muss ich gegen das Internet durchhalten, als trüge ich mich selbst als wasserempfindliches Hologramm über meinem Kopf, während ich durch einen reißenden Strom wate. Ich lebe jedoch immer noch nach dem Prinzip, man muss sich in den Strom stürzen, nicht zögern.

Ich hätte nie gedacht, dass technisch zu machen wäre, dass überall Strom ist.[1]

Mein freies Leben setzt sich aus Zerstreutheit zusammen. Bei jeder Blockade in einer Aufgabe gibt es andere, die leichter gelöst werden können. So postmodern wie meine eigenen Zellen funktioniere ich. Kein fixes Fließband ist meine Arbeit, sondern ein Raum mit osmotisch fließenden Grenzen, in denen die RNA, Proteine etc. (Arbeitsanweisungen und Kopien) herumschweben und ich das Nächstbeste greife, was mich aufgrund seiner Natur und meiner Bereitschaft anzieht. Mein Gehirn funktioniert so, meine Nahrungsaufnahme, meine Freundschaften.

Es zieht mich hin zu Leuten, die im Internet Genuss finden und Lebensart haben. In der Stadt, auf Feldwegen, auf Gartenparties, in Diskos, immer bin ich auf der Flucht. Da entsteht keine Lebensart. Immer bin ich auf Besuch. Dankbar, wenn man mich mag. Dankbar auch für Struktur, Zwänge – denen ich ja allzuleicht entkomme – Rhythmen. Wenn es kein Internet gibt, kann ich einen Haufen Arbeiten jetzt nicht erledigen, das macht die Orientierung leichter. Wenn es draußen sehr unwirtlich ist, stärkt es meinen Entschluss, bei einer Sache zu bleiben.

Das Internet kann man kennen, man kann es bauen, es entspricht Strukturen des Denkens. Es kann ein Lächeln sein, wenn man seine Musik versteht. Es ist doch wie das Werk eines Komponisten. Man muss es lesen können, etwas heraushören. Die Partitur an sich ist unsinnlich. Was für eine riesige Wolke an Kompetenz es doch jetzt gibt! Und die Systeme sind immer noch komplexer, das Internet ist uns in allen Richtungen immer voraus, wie dem Grottenolm der Boden, dem Wal das Meer. Wir sind darin kompetent, aber an ein Ende kommen wir nie.

Freedom is wasted on the free, singt Neil Hannon (Divine Comedy).

Ich gehöre nicht ins Internet. Auch nicht in eine Familie. Auch nicht an eine Uni. Doch zieht es mich dort hin. Ich will nicht mehr Resultate produzieren! Ich wuerde gerne in einen Arbeitsprozess integriert werden. Einen, den nicht ich selber alleine ausgedacht habe. Heißt das nicht schlicht, ich kann mit der Freiheit meiner freien Arbeit nicht umgehen? Ich meine, es hat auch eine andere Komponente. Es braucht die Fiktion von Resultaten, von Achievement, einen naiven Glauben ans Fertig-Werden und eine ungeheuer robuste Perfektionstheorie, um als freier Dienstleister nicht verrückt zu werden. Oder man schafft sich den Arbeitsplatz selber, indem man sich mit Kollegen, die auch so frei umherschwirren, befreundet. Dass sie auch Konkurrenten sind, wäre im Buero genauso der Fall, das ist nicht das Problem. Zweideutige Beziehungen sind der Normalfall. Und dann baue man sich nach und nach eine gemeinsame Orientierung, erarbeite sich, ohne isolationsbedingt verrückt zu werden, eine vernünftige Einstellung zur eigenen Arbeit und deren Beziehung zu den so unterschiedlichen Kontaktpersonen. Hierin könnte die Freiheit wirklich der Boden für das werden, was man an Paradies mit Menschenmitteln bauen kann. Die Isolation ist in der Freiheit eigentlich leicht zu lindern.

Das Problem an der Freiheit ist der Wunsch. Der Wunsch ist ja an sich nie frei. Er kennt die verzwicktesten Winkel der Seele, wo er seine Wurzeln einschlägt, wenn alles schon die reinste Skaterhalle der Wollust geworden ist. Um den Wunsch zu erkennen, muss man die eigenen Unfreiheiten erkennen. Fehlt äußerliche Unfreiheit, gegen die sich der Wunsch sonst sammelt, ist er schwer aufzufinden und funkt ungreifbar herum. Die Möglichkeit, im Internet immer woanders hinzugehen, wirkt wie ein Aufheben des Leidens. Man leidet höchstens, weil man ungeschickt ist oder Schnupfen hat oder Empathie. Wer seine Wünsche kennt und ihnen vertraut, handelt in der Welt wie im Internet meist geschickt, wie auch der, der ein kräftiges Programm hat, dem er folgt. Nur wer das Leiden meidet, kommt in die merkwürdige Situation des Leidensentzuges, das auch ein Freudenentzug ist. Auf ein ewiges Kind wie mich, das will, was es sieht, und vergisst, was es nicht sieht, wirkt das Internet so fatal schützend wie ein Laufkäfig: Man kann fast überall hin, ist aber nicht richtig dort. Und das, was einen wirklich interessiert, ist – das weiß ich genau – woanders.


[1] Ist auch nicht.

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Facebook ist mein Ground Control http://superdemokraticos.com/themen/neue-welt-im-netz/facebook-ist-mein-ground-control/ http://superdemokraticos.com/themen/neue-welt-im-netz/facebook-ist-mein-ground-control/#comments Mon, 07 Nov 2011 08:56:53 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5506 Ich bin eine Blind-Userin. Ich will nichts von den Gefahren des gläsernen Menschen wissen, sobald ich mich bloggend, postend oder sonst wie im Netz bewege. Ich bin eine Autorin, die eh jeden schriftlichen Ausdruck, den sie tätigt, als nicht völlig zu ihrem Selbst gehörig betrachten kann, sondern immer schon als das, was sie betreibt, um von sich weg zu kommen, um Distanz zu nehmen, um ihr Selbst einmal von außen betrachten zu können, in Formalin, oder unter dem Elektronenmikroskop. Mit Befremden wie völliger Naivität schlage ich daher jede Warnung in den Wind, vornehmlich von Kollegen, die mich dazu bewegen wollen, sich doch um Privatsphäre wie Berufsethos willen auf solchen Plattformen nicht rumzutreiben, und, wenn schon, immer bedeckt zu halten mit jeglicher Äußerung, die eines Tages, sobald sie eben schriftlich im Netz festgehalten wurde, doch zwangsläufig gegen einen verwandt werden könne, ja, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlachtet, verhökert und in letzter Konsequenz gegen einen selbst gerichtet wird.

Dass es dafür meist überhaupt keiner eigenen Äußerung bedarf, sondern, dass schon Josef K. einfach nur verleumdet werden musste, um ihm den Prozess zu machen und dass sich ein Grund immer finden lässt und immer gefunden wurde in der Menschheitsgeschichte, wollte man sich unliebsamer Personen wie ganzer Völker entledigen, scheint dabei irrelevant. Nein, man ist, wenn schon, seines eigenen Unglückes Schmied gewesen und das mittels Blogs und Facebook um so mehr, so viel steht fest. Man möge doch bitte nicht so bereitwillig und nichtssagend über sich Auskunft erteilen. Wenngleich jede Nichtigkeit eines Andy Warhols mit Interesse und Neugier gern gelesen wurde und dem Nöler aus Vechta, Rolf Dieter Brinkmann, bis heute noch jeder zweite Autor bereitwillig durch falsch verrechnetes Flaschenpfand, Künstlerlandverschickung und Rom, Blicke nachstiefelt. So viel spießige Künstlerlarmoyanz wurde selten danach wieder verfasst. Vielleicht habe ich es auch immer schon als einen Akt des Trotzes wie der Befreiung gesehen, Schnüfflern zuvor zu kommen und den nichtssagenden Nebenäußerungen nicht weniger Bedeutung beigemessen, als den vielsagenden Werken, auch wenn man nicht Warhola heißt und sich über falsch verrechnetes Pfand trotzdem nie so wird echauffieren können wie Rolf Dieter Brinkmann es konnte. Ich bin die Queen des Nebenschauplatzes, immer schon gewesen, und eine glühende Befürworterin der Ablenkung. So gesehen kam mir Facebook entgegen, aber ich trat ihm aus einem profan erscheinenden, doch mir einzig wichtigem Grund bei. Ich wollte Kontakt zu jemandem, zu dem ich eigentlich nicht wusste, wie ich Kontakt wiederherstellen und halten sollte, es gab erst mal keine Schnittmenge zwischen uns, die mir irgendwie groß genug schien, um beiläufig Kontakt zu halten. Und manchmal ist es ja durchaus so, dass man Houston sein Anliegen nicht wirklich vermitteln kann. Facebook war die Ground Control, die da Teilhabe möglich machte und Einblicke gewährt. Viel mehr hab ich eigentlich nicht von Facebook gewollt, und ob ich mehr bekommen habe? Ja, schon, aber darauf kams mir gar nicht an. Natürlich habe ich dann auch alle Facebookuserfehler gemacht, die man machen kann, alle meinem Beruf irgendwie Assoziierte befreundet, die anfragten, und bis heute nicht so wirklich den Ordnungssinn aufgebracht, Listen anzulegen und in liebsam und unliebsam getrennt. Allerdings bin ich mit Freundschaftsanfragen vorsichtiger geworden, nicht zu vorsichtig, denn, wie sagte es ein guter Freund aus dem richtig echten Leben, den ich viel zu selten sehe, wie ich meine Freunde, seit ich zu oft in Sao Paulo lebe, eh zu selten sehe: No risk, no fun. Und mir scheint, ab und an muss man seine Freiheit etwas in Gefahr bringen, um sie lustvoll zu spüren. Vorsicht allein war nie der beste Freund der Freiheit, das gilt wohl auch für Facebook, allen berechtigten Bundestagsdebatten zum Trotz.

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Informationsfreiheit http://superdemokraticos.com/themen/neue-welt-im-netz/informationsfreiheit/ Sat, 05 Nov 2011 13:00:09 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5336

(c) Caro Chinaski and Helena

Ich bejubele die Freiheit des Informationsaustausches und lebe sie aus!
Dieses Netz ist ein gutes Beispiel für „geteilte Erfahrungen“.

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MaschinenMilchMüll http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/maschinenmilchmull/ http://superdemokraticos.com/laender/deutschland/maschinenmilchmull/#comments Mon, 29 Aug 2011 07:00:40 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4965 nach Heiner Müller

Wenn sie mit Fleischermessern durch eure Schlafzimmer geht, werdet ihr die Wahrheit wissen.

Beschirmt von Edelstahl, Glasbeton, Hartz IV. Dahinter mein Ekel. Er ist ein Privileg. Ich bin ein Privilegierter, der ich die Zeit habe, diesen Essay zu schreiben. Wir haben 1989 unsere Revolution gehabt, auch wenn es eigentlich nur eine Konterrevolution war; jetzt macht ihr erst einmal eure eigene. In der Einsamkeit der Flughäfen atme ich auf. Ein Königreich für einen Mörder ist H&M. Gelächter aus toten Bäuchen. In Blut, Feigheit und Dummheit erstickt die Würde die Hoffnung der Generationen. Die erniedrigten Körper der Frauen. Alle ohne die Würde des Messers, des Schlagrings, der Faust. Kurzum: Armut ohne Würde. Ein zugebauter Alexanderplatz, damit sich ein 1989 nicht mehr wiederholt. Gesichter mit den Narben der Konsumschlacht. Ein Streitwagen, der von den Werbetafeln blitzt, geh ich durch Straßen, Discounter …, die nie ein Machthaber betritt. Der tägliche Ekel vom Kampf um die Posten, Stimmen, Bankkonten. Der tägliche Ekel in die Visagen der Macher gekerbt. Ekel haftet den Lügen an, die geglaubt werden. Den Lügen, die von den Lügnern kommen, von niemandem sonst. Die Lügen, die geglaubt werden. Denn dein, mein Ekel, ist das Nichts. Unseren täglichen Mord gib uns nicht mehr heute. Unseren täglichen Mord gib uns wie das Abschalten jetzt, sofort. Wie buchstabiert man „Gemütlichkeit“? Ekel haftet dem präparierten Geschwätz des Power-Point-Deutschs in den Radios an, die den 8- bis 12-Stunden-Arbeitstakt vorgeben, haftet dem verordneten Frohsinn der Fanmeilen an (in den USA meint Public Viewing die öffentliche Aufbahrung eines Toten). Ekel haftet dem Fernsehen an, dem Internet, das aus nichts als Spinnen und Fliegen besteht. Ekel haftet allem an, was da noch kommt.

Einig mit meinem ungeteilten Selbst gehe ich nach Hause und schlage die Zeit tot. Die ausgestopften Zombies in den Pornos bewegen keine Hand. In ihren Vaginen verfaulen die Penisse. Die sozialen Netzwerke sind das Alibi einer Generation, die zu feige ist, um das, was man Protest nennt, auf die Straße zu tragen. Die Dichter haben ihre Gesichter in den Benutzerprofils ihrer Benutzerkonten hochgeladen. Die Gedichtbände sind verloren gegangen. Wortschleim absondernd in meiner schalldichten Sprechblase, aufatmend hinter der Flügeltür, blutend in der Menge hat sich meine Lyrik nicht verkauft. Ich bin die Datenbank. Meine lyrischen Ichs sind Speichel und Spucknapf, Messer und Wunde, Zahn und Gurgel, Hals und Strick. Ich füttere mit meinen Daten die Computer. Ich bin mein Gefangener.

Aus dem Ruf nach mehr Freiheit wird der Schrei nach dem Sturz der Regierung. Auf dem Balkon eines Regierungsgebäudes ein Mann mit schlecht sitzendem Anzug, der so lange redet, bis ihn der erste Stein trifft und er sich ebenfalls hinter die Tür aus Panzerglas zurückziehen muss. Gruppen bilden sich, aus denen Redner aufsteigen. Wenn sich der Zug dem Regierungsviertel nähert, kommt er an einer Polizeiabsperrung zum Stehen. Einzelne Polizisten, wenn sie im Weg sind, werden an den Straßenrand gespült. Langsame Fahrt einer Handykamera durch eine Einbahnstraße auf einen unwiderruflichen Parkplatz zu, der von bewaffneten Fußgängern umstellt ist. Die Straße gehört den Fußgängern. Während der Arbeitszeit und entgegen der Straßenverkehrsordnung. Der Aufstand beginnt immer als Spaziergang. Meine Lyrik, wenn sie sich noch verkaufen würde, verkaufte sich in der Zeit des Aufstands. Auf den Sturz der Metaphern folgt nach einer angemessenen Zeit immer der Aufstand.

Ich bin nicht H&M. Ich kaufe dort nicht ein. Ich schreibe nicht mehr mit … Eine Lyrik, die auch mich nicht mehr interessiert. Um mich herum werden, ohne dass ich gefragt worden bin, die alten Fassaden hochgezogen. Von Leuten, die meine Lyrik noch nie interessiert hat, für Leute, die sie nie etwas angehen wird. Eine überalterte Gesellschaft hat sich nie dem Tod gestellt. Die Sehnsucht nach der Monarchie ist ein Stadtschloss.

Gekleidet in mein Blut gehe ich auf die Straße. Ich grabe die Uhr aus meiner Brust, die mein Herz war. Ich werfe meine Kleidung ins Feuer. Ich lege Feuer an mein Gefängnis.

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Den Tod noch vor sich http://superdemokraticos.com/laender/mexiko/den-tod-noch-vor-sich/ Mon, 22 Aug 2011 11:29:35 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=4932 Es ist nicht so, dass ihr der Krieg gefallen würde, sie wollte nur immer schon töten. „Die Lehrerin“, so wurde sie in ihrem Dorf von allen genannt. Niemand interessierte sich für ihren richtigen Namen, sie hatten ihn bereits vergessen und keinerlei Interesse gehabt, nochmal danach zu fragen. Sie stammte aus einem gottverlassenen Dorf am Ende der Welt und war noch sehr jung, als sie hierher kam. Sie wollte ihnen beibringen, das Wasser zu abzukochen, sich regelmäßig die Hände zu waschen, zu verhüten, um nicht endlos viele Kinder zu bekommen, aber sie musste sich geschlagen geben. Seitdem sie angekommen war, musste sie sich geschlagen geben, mit ihren 21 Jahren war sie schon alt, betagt, müde. Versteckt hinter ihren Brillengläsern, die so dick wie Flaschenböden waren, nahm sie darum auch kaum wahr, was vor ihr geschah, sie lehrte das ABC, wiederholte immer wieder apathisch das Einmaleins und ließ sich auch nicht aus der Ruhe bringen, wenn die Jungs sich im Klassenzimmer prügelten. Sie hatte sich daran gewöhnt, jede neue Generation Bengel war schlimmer als die vorherige, früher sagten sie „Pimmel“ und heute mit unglaublicher Leichtigkeit „Schwanz“ und gingen dazu über, sich ins Gesicht zu schlagen anstatt auf die Eier, was ihnen eine einzigartige Freude bereitete. Als der Krieg ausbrach und andauerte, war es für sie deshalb auch nicht überraschend, dass diejenigen, die den Krieg machten, immer jünger wurden.

Sie hasste den Krieg und die 50.000 sinnlosen Toten, aber gleichzeitig sah sie auch keinen wirklichen Grund, am Leben zu hängen, umso weniger an einem Ort wie diesem, wo die Erddecke versiegelt war und keine Wurzel eindringen konnte, wo die Leute davon lebten, bis zur Landstraße zu laufen, um dort um Orangen, halb verfaulte Kekse und Sandwiches zu betteln, welche die Vorbeifahrenden nicht mehr wollten. Sogar die Bewohner des Dorfes wurden rekrutiert, immer Jüngere wurden eingezogen. Und dann gab es endlich Essen, jetzt konnten sie sich sogar den Luxus leisten, nicht mehr an das schlickige Wasser zu denken und Wasser in Flaschen zu kaufen. Sie wollte immer schon töten, aber nun war sie zu alt dafür. Mit ihren 35 Jahren war sie eine alte Frau, sie war verbittert, verwelkt. Genauso sagten sie es zu ihr, als sie sie in eine Ecke des Stalls drängten: „Die? Was willst du mit der? Das ist ne verfickte Alte, die bringts nicht mehr.“

Es war auf der Hauptstraße, der einzigen, die es im Dorf gab, als sie erwischt wurden. Sie gingen Richtung Dorfkrankenhaus, das nur daran zu erkennen war, dass „Dorfkrankenhaus“ über die Tür gekritzelt war. Die Lehrerin, die gleichzeitig auch die Ärztin sein musste, verteilte dort Aspirin und Penizillin wie Gott es ihr zu verstehen gab. Es waren drei Frauen, die sie im Morgengrauen aus ihrer Hütte holten, drei Schwestern, keine älter als 15. Sie hatten zu Hause versucht, der mittleren Schwester ein Kind abzutreiben, was zu einer starken Blutung  geführt hatte, die nicht enden wollte. Das Mädchen konnte nicht mehr laufen und lag wie ausgespuckt vor dem Haus der Lehrerin. Mit einem Leintuch bauten sie eine Art Hängematte, um sie zum Dorfkrankenhaus zu tragen, und während sie genau das taten, sahen  Hummer“s Jungs sie. Ein Hoffnungsschimmer blitzte im Herzen der Lehrerin auf: Vielleicht würden die Männer Mitleid mit ihnen haben und sie ins nächstgelegene Krankenhaus bringen. Aber falsch, nicht nur, dass die Frauen die Ausgangssperre missachtet hatten, nun sachen sie auch noch so aus, als versuchten sie,  eine Leiche verschwinden zu lassen (so wie der Löwe denkt, alle seien genau wie er, dachten auch die Männer, naja, zu diesem Zeitpunkt war das Mädchen tatsächlich bereits tot).

„Und die? Was willst du mit der? Das ist ne verfickte Alte!“, rief einer von ihnen, als sie die Lehrerin auf den Wagen drängten. Die beiden Schwestern waren bereits eingestiegen, mit auf sie gerichteter Waffe. Sie brachten sie zu einem Stall, dort wurden sie sieben Tage lang festgehalten und befragt, für wen sie arbeiteten. Die Lehrerin wurde nicht mal vergewaltigt, wozu auch, sie war alt und trocken. Es gab kein Essen, für keine von ihnen, höchstens ab und zu mal eine Tasse Dreckswasser. Als sie den Schwestern das Angebot machten, die beiden können für sie arbeiten, wurde alles anders. Nun waren sie es, die die Lehrerin bewachten, die vor ihr aßen, ohne ihr etwas abzugeben, sie waren es, die den Umgang mit Waffen lernten und sie zielten auf die Lehrerin, um sie einzuschüchtern.

Sie wollte immer schon töten, wurde aber nicht dazu aufgefordert, für den Boss zu arbeiten, sie war ja schon alt, schon 35. Weiß Gott, warum sich irgendjemand ihrer erbarmte und sie in den Bergen freiließ. Weiß Gott, warum sie nicht dort starb, weggeworfen in den Bergen, sie lief kilometerweit, kam ins Dorf und wusste, dass ihr Unterricht des Einmaleins und des ABCs niemanden interessierte. Die Kinder brachten sich gegenseitig bei, Waffen zu laden und zu entladen, ihre Zielsicherheit zu verbessern.

Sie wollte immer schon töten, aber niemand hat es ihr jemals beigebracht. Sie war schon zu zu alt. Um töten zu können, musste man  9 oder 14 Jahre alt sein und den Tod noch vor sich haben.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Liebe Ägypter! http://superdemokraticos.com/themen/burger/liebe-agypter/ http://superdemokraticos.com/themen/burger/liebe-agypter/#comments Wed, 16 Feb 2011 23:43:43 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3499 Ich habe vor kurzem einen besonderen jungen Mann kennengelernt. Am Brandenburger Tor in Berlin stand ein wütender Deutsch-Araber, der auf allen Berliner Demonstrationen zur Solidarität mit den Ägyptern Anti-Mubarak-Parolen ins Mikro rief, nein, besser schrie, wie ein Hiphopper ins Mikro, wie ein Shouter auf einem Fußballspiel: „Eins, zwei, drei, vier, Religion ist egal, Hand in Hand machen wir, was unser Herz uns befahl.“ Ramy Mostafa ging es um eine emotionale Politik, um seine „Familie aus 88 Millionen“ Ägyptern.

Ramy Mostafa auf einer Demo auf dem Pariser Platz, Berlin, 9. Februar 2011.

Der 18-jährige Schüler aus Neukölln, einem Berliner Stadtteil, das es meist nur wegen Arbeitslosigkeit, sozialem Elend, Jugendkriminalität, gescheiterter Integration in die Schlagzeilen schafft, hatte sich seine Haare zu einem Irokesen frisieren und das arabische Schriftzeichen für Ägypten rechts und links über die Ohren hineinrasieren lassen, damit man seine Wut auf Hosni Mubarak sehen würde, der Gewalt gegen diejenigen zugelassen hatte, die für ihre Freiheit und Rechte auf die Straße gingen. „Auf Deutsch war das Wort zu lang.“ Politisch korrekt ist er, der immer irgendwie zur Minderheit gehörte, als deutsch-arabischer Jugendlicher, der 10 Jahre in Ägypten aufwuchs. „Liebe Leute“, rief er, „liebe Nicht-Deutsche, liebe Nicht-Ägypter! Seid ihr bereit für die Show!?“ Jeden deutschen Demonstranten zählte Ramy doppelt: „Leute, die sich für so ein entferntes Land einsetzen, haben meinen gesamten Respekt verdient. Wir leben in Deutschland und ein Großteil des Publikums, Entschuldigung, der Demonstranten lebt in Deutschland. Ich bin selbst Deutscher und hab gelernt, jede Minderheit zu respektieren.“

Ramys in durchwachten Nächten selbst verfasste Reime waren leicht zu merken, daher gilt er nach den zwei Wochen, in denen er bei durchschnittlich sechs Veranstaltungen der Parolenrufer  war, als „Star“. Man grüßt ihn in den Dönerimbissen, bringt ihm Hustenbonbons mit und warnt ihn humorvoll, er solle sich an der Macht nicht berauschen, sonst würde er zu einem neuen Mubarak.

Die Gefahr ist allerdings gering: „Ich bin nicht politisch, ich bin menschlich“, sagt Ramy, als ich ihn in seiner Ein-Zimmer-Wohnung mit Boxsack und Wänden voller Fotos mit Freunden besuche. „Es ist nicht so, dass meine Texte besser sind als die der anderen, es ist auch eigentlich Nebensache, wer die Parolen schreit, ich bin nicht besonders gut in irgendwas, aber ich habe kein Problem voll und ganz bei einer Sache zu sein.“ Er wohnt seit ein paar Monaten hier, unterstützt vom Jobcenter, weil seine Mutter ihn dreimal rausgeschmissen hat. Ramy hatte bereits mit 12 Jahren einen Kulturschock, als er mit seiner deutschen Mutter und seinem Bruder von der nordägyptischen Wüste nach Berlin übersiedelte: Hier schienen nur Markenklamotten zu zählen. Aber die militärische schulische Erziehung samt Schlägen war vorbei. Er erzählt: „Die Gefühle von ägyptischen Kindern werden jeden Tag ziemlich kaputtgemacht. Die Kinder sollen von Geburt an daran gewöhnt werden, Draufgänger zu sein: für ihr Land draufzugehen, ein Soldat zu werden.“

Aber nicht nur Härte hat er in Ägypten erlebt, auch, was Armut heißt. Er erinnert sich daran, dass seine Tante, bei deren Familie er einige Zeit in Kairo lebte, einmal vor dem leeren Kühlschrank mit Tränen in den Augen stand. „Ich weiß nicht, was ich kochen soll“, sagte sie. „Wieso tun sich die Menschen immer nur in schwierigen Zeiten zusammen?“, fragt Ramy mich. Und er schenkt mir eine Tüte Kürbiskerne und eine Honigstange, echt ägyptisch, die er in einer Schrankschublade aufbewahrt.

Die ägyptische Revolution wird jetzt als „Facebook Revolution“ bezeichnet, weil viele Demo-Aufrufe zunächst über Facebook, insbesondere über den Account des Aktivisten und Google-Mitarbeiters Wael Ghonim liefen. Er war zu Beginn der Proteste verhaftet und zwölf Tage ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten worden. Als er nach zwölf Tagen freikam, gab er dem arabischen Sender Dream TV ein emotionales Interview, dass die Proteste weiter anfeuerte, inbesondere, weil er sehr so enttäuscht davon war, dass das Regime seine Familie nicht über seinen Verbleib informiert hatte. Vielleicht sollte man besser von einer Revolution von Menschen für Menschen sprechen, so wie der slowenische Philosoph Slavoj Žižek und der Oxforder Islamwissenschaftler Tariq Ramadan: Sie betonen das Universelle an den Protesten. Wer mag überhaupt von einer Facebook-Revolution sprechen, wenn das Netz mehr als fünf Tage lang durch die ägyptische Regierung gesperrt war? Wie die portugiesische Zeitung Publicó am 14. Februar schrieb: Die Dekade, die am 11.9.2001 anfing, ging am 11.2.2011 zu Ende. Die arabischen Bürger, oder Bald-Bürger, wenn sie in ein paar Monaten frei wählen dürfen, haben ein Jahrzehnt der globalen Stagnation beendet. Danke, liebe Ägypter!

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Eine Clownsdemokratie … http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/eine-clownsdemokratie/ http://superdemokraticos.com/laender/bolivien/eine-clownsdemokratie/#comments Wed, 29 Dec 2010 13:40:55 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3466

Privates Familienfoto, während des Chaco-Krieges, Bolivien.

„Ich respektiere ihn wohl, es ist schade, dass ich ihn nicht auch gern haben kann.“

– denken sicherlich viele Vertreter der sogenannten lateinamerikanischen Boom-Literatur über Jorge Luis Borges.

Ich war in Bolivien, als Mario Vargas Llosa der Nobelpreis verliehen wurde. Am selben Tag begann ich mit diesem Artikel für die Superdemokraticos. Ich wollte schildern, wie ich mein Land sah und erlebte, nachdem ich fast zwei Jahre nicht mehr seine Straßen entlang gelaufen war. Es ist mir schon immer schwer gefallen, den Fokus eines Textes zu verlagern und eigentlich wollte ich über meine Großmutter schreiben. Ich reagiere langsam; was soll ich machen, die Welt überrascht mich. Ich hätte nie gedacht, dass ich erleben würde, dass Vargas Llosa den Nobelpreis erhält – Borges hat ihn wegen ähnlicher Ideen nicht bekommen. Außerdem sind 20 Jahre vergangen, seitdem ein Lateinamerikaner diese Auszeichnung gewonnen hat, und es ist sicherlich das erste Mal, dass Bolivien in einem solchen Festakt Erwähnung findet. Und obwohl dieser Text schon seit mehreren Tagen fertig sein sollte, bin ich sicher, dass sich diese Denkpause gelohnt hat. Auch ich trage Bolivien tief in meinem Herzen, und es fällt mir schwer, es heraus zu kehren und zur Schau zur stellen.

In den letzten Jahren, und vor allem zu Beginn des Wandels – wie die Amtszeit von Boliviens Präsident Evo Morales genannt werden wird – habe ich wie viele andere auch den revolutionären Prozess, der in meinem Land statt findet, offen unterstützt. Viele der Vorschläge und Slogans von Morales waren richtig, sind richtig, die Anerkennung unserer indigenen Völker und der Pluralität unserer Bevölkerung im Parlament sind fundamental, und ich empfand es als Zeichen der Reife des Wahlvolkes, dass dieser Wandel durch eine Wahl ermöglicht wurde. So wie Vargas Llosa denke ich, dass die Demokratie die beste Form des Zusammenlebens ist, weil sie auf dem freien Spiel der Bürger, der Individuen fußt und nicht auf hohlen nationalistischen Diskursen. In Bolivien laufen die Dinge nicht gut.

Damit eine Regierung demokratisch genannt werden kann, muss sie jenseits wohlmeinender Absichtserklärungen nicht nur die Stimme der Wähler respektieren, sondern auch die Gesetze, die das Zusammenleben ermöglichen. Durch das Machtvakuum in der Gerichtsbarkeit des „Plurinationalen Staates Bolivien“ – wie wir heute heißen – entstand ein Chaos, und der Machtmissbrauch der Exekutive ist so augenscheinlich, dass wir wahrlich von Angst innerhalb der Bevölkerung reden können. Unser Parlament – praktisch ohne Oppositionspartei in seinen Reihen – erlässt Tag für Tag Gesetze, als wären diese churros (heißes Spritzgebäck, Anm.d.Ü.) Es sind ambivalente Gesetze, die in vieler Hinsicht gegen unsere bestehenden Gesetzbücher verstoßen und gegen die kein Widerspruch eingelegt werden kann, da wir kein Verfassungsgericht haben, das diesen Namen verdienen würde.

Es gibt auch die scheinheiligen Gesetze. Das vom bolivianischen Präsidenten auf dem Klimagipfel in Cancún vorgestellte Gesetzespaket, welches angeblich die Pachamama und die indigenen Völkern schützen und verteidigen soll, ist nicht mit dem weiterhin von den Menschen in meinem Land geteilten Fortschrittsdenken vereinbar. Eine Idee des Fortschritts, die die Pluralität von Weltsichten nicht respektiert, ist noch in der kolonialen Logik verhaftet. Auch ist mir klar, dass das Prinzip der Plurinationalität, mit dem der Präsident all seine Amtshandlungen rechtfertigt, vielleicht die nicht andine, indigene Bevölkerung weitaus schutzloser zurück lässt, als sie es in den letzten 20 Jahren der demokratischen Herrschaft gewesen ist. Vielleicht ist dafür das neu gebaute Wasserkraftwerk in Argentinien das eindringlichste Beispiel. Durch dieses verlieren ganze Dörfer im bolivianischen Chaco-Gebiet ihre Existenzgrundlage, ohne dass sie dagegen juristisch vorgehen könnten. Die bolivianische Regierung plant ein ähnliches Kraftwerk im Amazonasbecken, von unseren Atomenergieplänen in Zusammenarbeit mit dem Iran ganz zu schweigen.

Die Opposition wird verfolgt. 2010 hat Evo Morales die „Verrechtlichung der Politik“ auf die Spitze getrieben, sowohl in seiner Gangart gegen die „korrupten Oppositionellen“ als auch gegen neue Führungspersönlichkeiten und mögliche Anwärter auf das Präsidentenamt bei den Wahlen 2014. Der Prozess gegen Luis Revilla, der junge Bürgermeister von La Paz und einer der anerkanntesten Köpfe der Partei Movimiento sin Miedo (Bewegung ohne Angst) – derzeit die einzige linke und demokratische Partei, die diesen Adjektiven würdig ist – ist schlicht und ergreifend beschämend. Von dem institutionalisierten Machismo, dem Drogenhandel und Schwarzmarktgeschäften ganz zu schweigen. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, so wie ihn Präsident Morales interpretiert, wirft mein Land, was die bürgerlichen Rechte der Gesamtbevölkerung angeht, zurück ins 19. Jahrhundert.

Ich stimme mit Vargas Llosa überein, dass die Demokratie in meinem Land genauso oder mehr noch eine Farce ist wie ihre Vorgängerinnen, mit dem Unterschied, dass die amtierende Regierung mit allen Mitteln die Meinungsfreiheit zu unterbinden versucht. Das neue Antidiskriminierungsgesetz ist, abgesehen von seinem politisch korrekten Namen, ist ein infamer Angriff auf die Meinungsfreiheit. Die Antworten der Regierungsmitglieder auf Vargas Llosas Rede sind meines Erachtens ein klares Beispiel für den Zustand der Regierung. Sie zeigen, dass Evo Morales weder der Presse zuhört noch Zeitungen liest, sondern allein auf die Kritiken seiner Person reagiert. Seine tendenziösen Aussagen über den angeblichen Rassismus gegen die indigene Bevölkerung der Region sind lachhaft. Um so mehr, wenn man bedenkt, dass zum erste Mal ein kreolischer lateinamerikanischer Schriftsteller im Namen derjenigen, die wir so sind wie er, die Verantwortung für 200 Jahre Zurücksetzung und, in vielen Ländern, für die Ausrottung ganzer indigener Völker übernimmt. Die Verantwortlichen für das Geschehene sind unsere Großeltern – ich benutze die erste Person Plural, weil auch ich eine Kreolin und das heißt, schuldig bin, auch wenn ich es bevorzugen würde mich als andine Westlerin zu definieren, um so mit unserer despotischen Tradition zu brechen, ohne meinen kulturellen Wurzeln abzuschwören.

Ich bin sicher, dass der Plurinationale Staat Bolivien auch das Resultat der Arbeit von vielen Großeltern ist, die an die westlichen Werte der Aufklärung glaubten, und so wie Vargas Llosa denke ich, dass die Literatur eine viel wichtigere Funktion in unseren Gesellschaften hat, als die der Erziehung und der Unterhaltung. Ohne den Glauben daran, dass die Literatur für die Schaffung von individuellen Utopien und damit für die Ideenvielfalt auf innige Weise mit verantwortlich ist, gäbe es zunächst einmal weder Schriftsteller noch amerikanische Staaten. Auch das nehme ich aus Vargas Llosas Rede mit. Seine bequeme Haltung gegenüber dem neoliberalen Wirtschaftsmodell hätte ich stärker und besser kritisiert als Evo. Die Konsumfreiheit darf nicht die wichtigste Freiheit im Westen bleiben. Und es ist unehrlich, nur die aus dem Boden schießende Fanatiker zu kritisieren, ohne auch nur eine Sekunde bei den Berlusconis, Sarkozys und den anderen Clowns zu verweilen. Denn sie sind die wahrhaftigen Zirkusdompteure. Die ganze Barbarei unserer Kultur.

Übersetzung: Anne Becker

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Vollkommen frei http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/vollkommen-frei/ Fri, 15 Oct 2010 11:32:55 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2495 Schwindelerregende Übungen. Die Vorstellung von einem vollkommen freien Abschied erinnert mich an den freien Fall. Die Tage vergehen, und ich bin blank. Nichts ist freier als ein weißes Blatt Papier, es ist der Gefangene, der schreibt, draußen eingesperrt, ein Gefangener Gottes.

Heute Abend werde ich rausgehen, um Ideen zu jagen, es wird mir gut tun, mich frei zu machen und die Rückkehr nach Hause wird von ganz alleine geschehen. Aufgrund der Kommunalwahlen am Sonntag ist es der zweite Tag der Prohibition. Wenn ich bei gesellschaftlichen Ereignissen absolut nichts trinke, ist es sehr wahrscheinlich, dass ich mich ablenke, mich vertiefe, Details beobachte, zerlumpte Fäden an den Gewändern der Könige, neurotische Mäuse, die in der Ferne den Weg kreuzen – dann werde ich es tun! Wie ein Engel, der sich eine unsichtbare Notiz macht, werde ich während der Verabschiedung einer Freundin zwischen den Menschen die Abschiedsrede schreiben. Ich werde mich umziehen und dann gehen.

Jetzt stehe ich auf einer großen Holztruhe an einem alternativen Kulturort. Eine Buchvorstellung wird von einer Performance begleitet. Die anderen Assistenten sind auf Meereshöhe, sodass ich eine privilegierte Sicht habe. Neben mir sitzt ein Freund auf einem Stuhl und trinkt einen Empfangscocktail (erster Verstoß gegen die Prohibition an diesem Abend). „Wir sind die Könige der Welt“, sage ich zu ihm. „Wir sollten uns küssen“, antwortet er. Später steigen Wini und ich aus dem Kombi und singen voller Gefühl „Hacer el amor con otro“ (Liebe mit jemand anderem machen) und beschwören die polemische Leidenschaft herauf, das dieses Lied in der Öffentlichkeit hervorrief als wir zehn Jahre alt waren. Ich beobachte und koste den zweiten Verstoß auf der Jubiläumsfeier eines Ladengeschäfts, das den Namen Reinkarnation trägt.

Ich bitte die Assistenten um Wörter, das Volk muss mich bei dieser Heldentat unterstützen. Aal-Perversion-Scheiße-Anziehungskraft-Schuldig. Düstere Ahnungslosigkeit der Anwesenden… Was tue ich? Verwandle ich gerade einen Artikel mit freier Themenwahl in eine Feldstudie über die Freiheit, die auf freien Assoziationen und zeitlich unpassenden Auftragserfüllungen basiert? Dieser Unsinn sprengt die Grenze zwischen literal und liberal. Auf den Straßen ist die Wahlpropaganda allgegenwärtig und auf der Verabschiedung trinken alle ohne Hemmungen. K informiert mich darüber, dass draußen berauschte und in unterschiedlichster Bedeutung entfesselte Menschenmengen beobachtet werden können, die durch die Straßen zirkulieren. Es scheint, als ob die Tage der Prohibition heute Volksfeste sind. Und während meine Freunde Strategien und Einfälle á la Al Capone aushecken, wächst in mir eine anthropologische Unruhe angesichts der Missachtung, der Anrufung des Chaos und des Gewohnheitsrechts, auf das sich Professor Perla bezog, aufgrund dessen sich eine Gewohnheit als Gesetz durchsetzen kann, wenn eine Gemeinschaft einstimmig seine Verwurzelung und seinen Nutzen beschließt.

Aber nun muss ich nach Hause zurückkehren, um zu schreiben und den Text einzusenden, ich bin im Rückstand und um mich herum drehen die Menschen durch. Ist es das Fest der Demokratie? Ich bange. „Kannst du nicht mit der Freiheit?“ fragt mich M. „Früher hatte ich keine Probleme damit, es scheint an der Monogamie zu liegen“, spaße ich, weil ich Frei bin wie die Schallplatte Libre (Frei), die Alejandra Guzmán 1993 herausbrachte. So, wie auf der Karte steht, die mir mein Pate Alejandro (ruhe er in Frieden) zur Erinnerung an meine Taufe zeichnete: „Du wurdest für die Liebe und die Freiheit geboren.“ Dem Lob dieser Werte widme ich mein Leben und nicht nur deshalb, weil es auf dieser Pappe geschrieben steht.

Es verblüfft mich, dass ich lange Zeit Liebesgedichte schrieb, ohne es zu wissen, aus dem Magen heraus – und nicht aus dem Hals heraus – sang, wie es die Gesangsmeister raten. Seit wann bringt mein Mund Schmetterlinge statt religiöser Gottesanbeterinnen hervor?

Liebend gerne würde ich weiter plaudern, aber ich muss diesen Brief dem Briefträger überreichen, der in meinem Zimmer wartet.

Wir werden uns wieder treffen, Autoren, Leser und Wähler, zum vereinbarten Gesetz, zum Fest der Superdemokratie.

Übersetzung: Marcela Knapp

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Mundo Paparazzi Mi Amore Chica Ferdy Parasol http://superdemokraticos.com/themen/burger/mundo-paparazzi-mi-amore-chica-ferdy-parasol/ Tue, 07 Sep 2010 07:35:49 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=1706 Die Erde, vom Merkur aus gesehen. Ein heller Ball im schwarzen All, umgeben von einem kleinen, hellen Punkt.
(c) René Hamann
Mein Horoskop war ausverkauft. Zu viel Blausäure, zu viel Stimmungsschwankung, zu viel Weltall.

Gestern habe ich den perfekten Bürger gesehen. Er hatte goldenes Haar. Er war klug und belesen, unbefleckt, unschuldig und rein. Er strahlte Versonnenheit aus. Gegen ihn musste ich Merkur sein. Ein zerbeulter Planet. Oder Pluto, hinten irgendwo im Dunkeln, oder Jupiter, Neptun, die schwarze Seite der Galaxie. Die Antimaterie. Er konnte gar nicht ahnen, mit wie viel Ballast ich daherkommen würde. Er ahnt nichts von alldem. Er ist der perfekte Bürger. Kein verkrachtes Elternhaus, keine kreativen Allüren, keine Schnitte an den Oberarmen, kein ausgekotzter Schmerz, gar kein Schmerz, gar nichts. Eine Sehschwäche, höchstens.

Die Erde, vom Merkur aus gesehen. Fotografiert von „Messenger“.
Eine Sonde, die sich in die Umlaufbahn eindrehen wird nächstes Jahr.

Ich schreibe für Geld, ich schreibe für Liebe, ich schreibe fürs Glück.
Sie bezahlen mich mit Gift.
Ich lebe zur falschen Zeit am falschen Ort. Zu viel Weltall.
Der perfekte Bürger, ein akkurater Rasen, eine Besonnenheit. Jemand von der Lichtseite.

Sobald man ein Objekt beobachtet, verändert es sich. Unschärferelationen.
Ich fühle mich wie ein Teenager, jeden Tag verliere ich mich aufs neue.
- Wusstest du, dass Gauloises in Frankreich eine Prollmarke ist?
- Nein, wusste ich nicht.
- In Russland auch. Da sind diese schmalen Zigaretten schick.

Zu viel Ich, auch. Eine Welt, die verspiegelt ist. Kennst du das?
Als wenn das Gehirn glüht. Prolongiert. Ein ferner Punkt.
Und ich sitze traurig neben meinen Wunschmaschinen. Die Wunschmaschinen am Strand unter dem Himmelszelt. Sie laufen alle ins Leere.

Der perfekte Bürger fragt nicht nach Geld, er lässt sich einladen. Er gibt mir Gifte. Ich sehe die Fabriken, in denen sie hergestellt werden. Die Fabriken sind uneinnehmbar. Sie werden durchlaufen. Sie sind in einer anderen Zeit.

Ich suche nach den gemeinsamen Frequenzen, ich finde sie nicht.
Was wir reden, ist codiert.

Verspiegelt wie ein Aufzug. Eine verspiegelte Welt, in der ich mir eine Gauloises anstecke.
Immerhin umarmen wir uns zum Abschied.

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Es geht mir gut im Jahr 2025! http://superdemokraticos.com/themen/koerper/es-geht-mir-gut-im-jahr-2025/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/es-geht-mir-gut-im-jahr-2025/#comments Tue, 17 Aug 2010 12:27:14 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=915 Vor fünf Monaten habe ich das Rauchen endgültig aufgegeben. Freilich, viel geraucht habe ich auch in den Jahren zuvor nicht mehr, hier und da vielleicht eine Zigarette im Keller oder auf einer einsamen Bank am Meer. Irgendwann wurde mir aber auch das zu blöd: Eine Bank mit Meer ist auch ohne Kippe schön, dachte ich. Und ein Keller bleibt auch mit ihr trostlos!

Mein Leben hat sich seither grundlegend gewandelt. Ich erwache um sechs Uhr in der Früh, ziehe mir meinen Leichtmetalljogginganzug über, fahre mit dem Rad die 20 Kilometer ins Freibad. Dort bin ich immer der erste. Ganz alleine treibe ich mittig einen Keil in das tiefblaue Becken. Zwei Stunden später, nach zehn Kilometern Lagen, entsteige ich selbigem wie ein Neugeborenes dem Mutterschoß, doch ungleich dem Neugeborenen dusche ich nicht lauwarm, sondern eiskalt. Danach mache ich mich im Dauerlauf auf den Weg nach Hause. Das Fahrrad werde ich am nächsten Tag bei einer reziproken Runde abholen.

Zuhause angekommen dusche ich noch einmal kalt, ehe ich zwei Kilogramm Bircher-Müsli esse. Um vier Uhr nachmittags mache ich einen ausgedehnten Spaziergang durch ein nahe gelegenes Wisentgehege. Danach verwende ich viel Zeit und Liebe auf die Zubereitung eines vegetarischen Fleischsalats. Zum Essen kommen Freunde aus der freikirchlichen Gemeinde. Wir trinken ein alkoholfreies, isotonisches und vitaminreiches Weizenbiergetränk und unterhalten uns intensiv und gut. Es geht um Menschlichkeit und die fortdauernde Krise der Sozialdemokratie. Um neun Uhr bitte ich die Freunde, mich jetzt alleine zu lassen. Nachdem ich mich von oben bis unten mit einer rückfettenden Nachtcreme eingerieben habe, gehe ich ins Bett, wo ich noch zwei Kapitel in den Memoiren von Günther Jauch lese. Um 22.30 Uhr lösche ich das Licht.

So erledige ich meine Biographie und ich kann nicht sagen, dass es mir schaden würde. Ich bin außerdem jetzt Teil eines Zeitzeugennetzwerks, das Kinder in Schulen besucht und sie vor den Gefahren des Rauchens warnt. Von der Nichtraucherinitiative Deutschland habe ich eine Kladde mit Overhead-Folien bekommen, auf denen verfaulte Beine, fehlende Kehlköpfe, weiße und schwarze Lunge zu sehen sind. Irritierend sind immer wieder einige Zwischenrufe, denen zufolge die weiße Lunge „mindestens so eklig“ aussehe wie die schwarze. Das überhöre ich einfach.

Was ich nicht überhören kann (obwohl ich es gerne würde), das sind die Stimmen der „Freunde“ von früher. „Langweilig“ sei ich geworden, sagen sie, wenn sie – „auf eine Zigarette“, wie sie sagen – vor meiner Tür stehen. Mir fehle der „schwebende“ Blick des überlegenen Beobachters, und nicht zuletzt die Fähigkeit, Dinge zu „verknüpfen“, die eigentlich nicht zusammen gehörten. Ich verstehe diese Menschen ebenso wenig, wie ich sie zu mir herein bitte. Ich schließe die Tür und begebe mich zurück in den Salon, wo ich – auf einer Isomatte liegend – mein Powerhouse trainiere.

Manchmal, wenn ich dabei einschlafe, träume ich recht wild – einen immer wiederkehrenden Traum. Er handelt von einem Land lange vor unserer Zeit, in dem Männer und Frauen in verrauchten Eckkneipen sitzen und mit Bier, West und Wodka-Shootern der Kunst des Sich-langsam-Zugrunderichtens nachgehen konnten. In lauen Sommernächten lärmten Mädchen und Jungen durch Fachwerkgassen, eine grüne Glasflasche in der einen, eine Zigarette in der anderen Hand. „Fußpils und Kippe, eins an jeder Hand, dafür allein schon lieb‘ ich dieses Land“, ruft einer von ihnen aus der Traumwelt zu mir herüber. Ich schaue in sein Gesicht – und erkenne mich selbst.

Schweißgebadet wache ich dann jedes Mal auf. Mein erster Gedanke: Hoffentlich habe ich nicht zu laut gesprochen. Einmal schon stand die Nachbarin von unten vor der Tür, Lehrerin, allein erziehend, zwei Kinder: „Ich habe geträumt“, stammelte ich in ihr zornrotes Gesicht. Selbstverständlich dürfe ich träumen, was ich wolle, sagte sie darauf, mühsam beherrscht. Aber im Interesse ihrer Kinder müsse sie darauf Wert legen, dass nicht in deren Hörweite zum Bombenkrieg „oder Ähnlichem“ aufgerufen werde. Ich entschuldigte mich vielfach und bot ihr ein alkoholfreies, isotonisches und vitaminreiches Weizenbiergetränk an. Sie lehnte ab.

Nun, da ich schon seit mehreren Monaten nicht mehr im Schlaf nach Zigaretten gerufen habe, begleitet diese Nachbarin meine Fortschritte mit wachsendem Wohlwollen. Manchmal treffen wir uns morgens im Freibad. Dann dritteln wir das Becken mit zwei äquidistanten Keilen. Einmal, auf der Radfahrt nach Hause, erzählte ich ihr meinen Lieblings-Raucherwitz „Mitten im Krieg sitzt ein Raucher nachts im Schützengraben und raucht eine Zigarette – weithin sichtbar für den Feind. Ein anderer Soldat warnt ihn: ‘Tu das bloß nicht, das ist gefährlich.’ Der Raucher lächelt milde und antwortet: ‘Keine Sorge, ich inhaliere ja nicht.’“ Sie konnte darüber nicht lachen. Sonst verstehen wir uns aber sehr gut.

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