Geschichten – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Hänsel und Gretel http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/hansel-und-gretel/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/hansel-und-gretel/#comments Wed, 14 Jul 2010 11:00:37 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=448 Geschichten sind lebenswichtig, sie sind die Räume, in denen ich mich bewege, wenn meine konkreten Wahrnehmungen im physikalischen Raum sich in allen möglichen Dimensionen in mir und um mich herum abbilden. Dabei ergibt sich eine anachronistische veränderliche Erzähllandschaft. Und wie alle Räume brauchen sie hin und wieder einen neuen Anstrich.

Für mich gibt es die Geschichte nicht, vor allem nicht die vergangene, ich bewege mich in einem komplexen, sehr dynamischen Geschichtsgebäude, das aus Erinnerungsräumen, kollektiven Erzählräumen und sogar utopischen Räumen besteht und das von Zeit zu Zeit umgebaut und umgeräumt wird.

Lizabel Mónica spricht in ihrem Essay sehr treffend von den Zungen der Geschichte, weil sie ebenfalls nicht von einer Geschichte sprechen möchte, weil man sie im Grunde nicht erzählen kann. Denn wenn jemand eine Geschichte erzählt, bringt er doch immer sein eigenes dynamisches Geschichtsgebäude mit ein. Deshalb ist eine absolute Geschichte nicht erfassbar und vermittelbar. Ich plädiere für die Abschaffung dieses Singulariatantum, weil es totalitäres Denken fördert.

Die Vorstellung, Geschichte könnte nur von Historikern erzählt werden, ist altbacken und mittelalterlich. Dadurch wurden viele Menschen ihrer Geschichten entmündigt, dadurch ist ein versteinertes ruinenhaftes Geschichtsgebäude entstanden, das für die weitere Entwicklung der Gesellschaften nicht selten zur Last geworden ist. Von dieser kontraproduktiven Seite spricht mein erster Essay. Selbst eine Geschichte wie die von Hänsel und Gretel könnte man jeden Tag anders erzählen, wenn man immer einen anderen Aspekt beleuchten will. Wenn Geschichten Gedächtnis sind, und das Gedächtnis ein subjektives, dynamisches und progressives Erzählkontinuum, dann widerlegt schon das Zitat des Historikers Johannes Fried im Spiegel 2006 die These einer einzigen fassbaren großen Geschichte, er sagte: „Das Gedächtnis arbeitet nicht für Historiker, es dient dem Leben, und dieses bedarf fließender Anpassungen.“ Die Geschichte hat keine bestimmte Zeit und keinen Singular.

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Geschichte und Geschichten http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/geschichte-und-geschichten/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/geschichte-und-geschichten/#comments Wed, 07 Jul 2010 14:03:01 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=431 Augenscheinlich sind mir Geschichten wichtiger als Geschichte, sonst wäre ich ja Historikerin und nicht Schriftstellerin geworden – doch Geschichte spielt immer eine entscheidende Rolle. Ob man es möchte oder nicht. Auch beim Schreiben.

Literatur würde ohne althergebrachte Sprache und Alphabet, die beide schon allein Beweis dafür sind, wie wir aus und mit der Vergangenheit leben, gar nicht existieren. Auch das Geschichtenerzählen selbst ist dem Betrachten historischer Zusammenhänge nicht unähnlich, schließlich muss der Autor herausfinden, was der Kern des Geschehens ist, was die Figuren getrieben hat, warum sie so handeln wie sie handeln, um am Ende aus diesen Einzelfäden das Handlungsnetz zu weben.

Doch das einfachste und offensichtlichste ist natürlich der Umstand, dass Geschichte die Menschen formt. Lange bevor wir geboren werden. Ich bin nur deshalb die Person, also die Autorin, die ich bin, weil die Geschichte meines Landes einen so massiven Einfluss auf das Geschick meiner Familie genommen hat – und damit auf mein Leben. Meine Großmutter verlor als junge Frau durch den II. Weltkrieg alles, was ihr bis dahin selbstverständlich erschien: ihre Heimat, ihr Elternhaus, fast alle Verwandten, die Freunde, die Orte ihrer Kindheit, ihren Dialekt. Mein Großvater, der in seinem vom Krieg völlig unberührt gebliebenen Heimatdorf einen kleinen Skandal verursachte, als er ein Flüchtlingsmädchen und keine Einheimische heiratete, starb 1967 im Alter von 42 Jahren unter bis heute ungeklärten Umständen in einem Stasi-Knast. Weder meine Mutter, die damals noch ein Kind war, noch meine Großmutter haben diesen Verlust jemals verarbeitet. Meine eigene Kindheit war vor diesem Hintergrund im Wesentlichen geprägt von Bewachung und dem Wunsch nach Freiheit. Dass ich eine höhere Schule besuchen durfte, verdanke ich ausschließlich dem Engagement einer mutigen Frau.

Selbstverständlich haben diese Dinge mich geprägt. Und mit mir prägen sie auch meine Geschichten. Niemand von uns fällt einfach so aus der Welt. Oder in sie hinein. Die unauflösliche Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit bildet den einen Raum unseres Daseins, in dessen Inneren wir uns ein Leben lang bewegen – und dem wir nicht entweichen können. Man versteht das Heute nur, wenn man es zusammen mit dem Gestern betrachtet. Das ist keine Frage von Interesse.

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