90s – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Orangensaft http://superdemokraticos.com/themen/koerper/orangensaft/ http://superdemokraticos.com/themen/koerper/orangensaft/#comments Thu, 05 Aug 2010 07:00:30 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=573 Seitdem ich denken kann, wollte ich etwas anderes sein. Mit sechs Jahren habe ich mich im Hof unseres Hauses auf den Rücken gelegt und die Sterne betrachtet; ich war mir sicher, dass dort meine wirklichen Artgenossen auf mich warteten. Einige Außerirdische, die genauso wie ich waren, lenkten ihre Blicke auf die Erde, und ich konnte sie in Form von Licht sehen. Tagsüber hielten wir durch Zeichnungen in den Wolken Kontakt.

Als Jugendlicher wollte ich eine andere Augenfarbe haben. Ich war kurz davor, mir schreckliche blaue Kontaktlinsen zu kaufen, aber dank meiner Armut tat ich es dann doch nicht. In den 90ern kam es vor, dass dein bester Freund eines Morgens an deine Tür klopfte, du ihm öffnetest und er freudestrahlend vor dir stand mit plötzlich seltsam jadefarbenen Augen. Dein Freund hatte sich in eine Mörderpuppe verwandelt, aber du sagtest nichts.

Niemals werde ich jenen halluzinogenen Nachmittag vergessen: Als wir an einem bestimmten Punkt angekommen waren, begann mein Freund mich „Orangensaft“ zu nennen. In seiner Wahrnehmung hatte sich mein Körper komplett aufgelöst und er sah mich als orange Flüssigkeit in einem Glas. Anfangs haben wir uns wie zwei Idioten darüber kaputtgelacht, bis ich zu sehr die Paranoia bekam und begann ihn zu bitten, mir genau zu erklären, was eigentlich los war. Mir ging auch sein blondes Haarbüschel auf die Nerven, so dunkel wie er war, sah es einfach nur lächerlich aus.

Wir waren 15, solche Dinge können da schon mal passieren.

Jahre später nervte es mich, dass ich so dünn war, und ich wollte mich mit Muskeln aufpumpen. Also begann ich mit meinem Kameraden, der von seinem Dicksein gequält wurde, ins Fitnessstudio zu gehen. Die Frauen flüchteten alle vor ihm, und es störte ihn, dass es mir in dieser Beziehung gar nicht so schlecht ging. Wir waren eigentlich in allem das genaue Gegenteil. Unser Trainer dort war zufälligerweise ein berühmter Medaillengewinner der Paralympics und sein Körper von der Hüfte aufwärts überdurchschnittlich ausgeprägt. Als erstes verschrieb er uns eine Proteinbomben-Diät. Sie verwandelte meinen Freund schon nach kurzer Zeit in die chichimekische Version von Hulk, während sie mich zunächst aufschwemmte und mir dann die Luft rausließ – ich verlor fast das gesamte Muskelgewebe.

Nach diesem anabolischen Experiment haben sich unsere Wege getrennt, und wir haben uns für eine lange Zeit nicht mehr gesehen. Eine sehr lange Zeit. Bis vor ein paar Monaten, als ich durch das Zentrum fuhr und eine schreckliche Vorahnung in der Brust spürte. Ich wandte den Blick zurück und sah den Körper meines Freundes, durchlöchert, hingestreckt auf dem Asphalt.

Jetzt versuche ich ihm zu erzählen, dass ich mich immer noch auf den Rücken lege, um die Sterne zu betrachten. Dass ich die Botschaften von jenen Alanians und deren Freunden in Texte verfasse. Da sie mir weiterhin die Notwendigkeit zeigen, mich zu transformieren, je nach den jeweiligen Umständen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Die Internationalmannschaft http://superdemokraticos.com/editorial/die-internationalmannschaft/ http://superdemokraticos.com/editorial/die-internationalmannschaft/#comments Sun, 11 Jul 2010 22:31:22 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=449 Sorry, Jungs, sorry, Mädels, ich muss, solange es noch geht, ein bisschen über Fußball schreiben. Seit der letzten WM 2006, die in Deutschland stattfand und mit dem Slogan „Zu Gast bei Freunden“ beworben wurde, wundert sich nämlich bei uns niemand mehr über öffentlich zur Schau gestellte Deutschlandflaggen. Was 2006 noch überraschte, ist bei der WM 2010 Normalität geworden. Die überpräsente National-Beschmückung führt dazu, dass ich mich täglich mit Deutschland und mit meiner Rolle als so genannte Deutsche (Pass) beschäftige. Beschäftigen muss. Und das ist mir immer etwas unangenehm. Denn wie deutsch bin ich, wenn ich meine erste eigene Wohnung als Aupairmädchen in Frankreich bezog, meine erste totale Sonnenfinsternis in London sah, meine erste Vollnarkose in Ungarn erlebte, zum ersten Mal in Bolivien in einem glasklaren Fluss schwamm?

Als ich zur Schule ging und studierte, in den 80ern und 90ern, konnte ich die Fahnen, die ich in meinem Leben gesehen hatte, an einer Hand abzählen. Es gab sie einfach nicht. Es gab im Lexikon den Eintrag „Flagge“, neben allen Flaggen der Welt, aber sie wurde nicht aus ihrer Kiste geholt. Sie war ein abstraktes Staatssymbol. Manchmal hing sie an öffentlichen Gebäuden, auf Halbmast, bei Todesfällen internationalen Ausmaßes, oder am Masttop in EU-Kontexten. Wenn wir mit der Familie Urlaub in Dänemark machten, flatterte dort vor allen Holzhäuschen die dänische Flagge. Ich dachte: Unsere Flagge ist einfach hässlich, die dänische ist viel schöner. Bin ich also Dänin?

Und nun: Autos, Fenster, Balkons, Vorgärten, Vuvuzelas, ja sogar Körperteile (Arme, Beine, Wangen) sind beflaggt. Neulich sah ich, wie eine dicke Frau im Tigerprint-Kleid auf die solariumsbraune Glatze ihres Mannes ein Flaggentattoo auftupfte. Eine Glatze in Schwarz-Rot-Gold… Ich bin verwirrt: Woher kommt diese neue Flaggenliebe der Deutschen? Warum ist die ehemalige Verdruckstheit weg („Ich kann nicht stolz auf mein Land sein, nach all dem, was passiert ist“, das 6-Millionen-Argument, von dem auch Jo Schneider in seinem Essay spricht; die historische Verantwortung, die man als Deutsche/r mit sich trägt)? Warum male sogar ich mir eine Flagge auf den Arm? Sind wir alle geschichtsvergessen geworden?

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Die neue deutsche Fankultur hat vielleicht mit einer gemeinsamen, kollektiven Freude zu tun, weil Sommer ist, weil wir draußen auf der Straße zusammen herumschreien und -tröten, weil es Spaß macht, sich mit etwas zu identifizieren, weniger mit einem Nationalgefühl als mit Sportsmanship und mit flotten Männern (Yes, Ladies!). Weil die Nationalmannschaft zu einer Internationalmannschaft geworden ist, mit Spielern wie Mesut Özil, Boateng und Piotr Trochowski mit migrantischen Wurzeln, die jung sind, nach anderen Regeln spielen, nicht mehr hierarchisch aufgestellt sind, irgendwie nicht-deutsch wirken (wenn Biertrinken, Schwermut, Autoritätsgehorsam als „deutsch“ gelten). Weil sie jetzt niederländisch spielen – das sagen zumindest die Zeitungen.

Gleichzeitig werde ich wohl nie davon wegkommen, das Flaggen-Meer als irgendwie gefährlich einzuschätzen. Nationale Symbole tragen diese Ambivalenz in sich, diese Drohung, von der auch Gabriel Calderón spricht: „Die Geschichte / Immer zur Stelle, um in jedem Moment wieder aufzutauchen / Um mit aller Wucht in der Gegenwart einzuschlagen.“ Leider mischen sich nämlich vermehrt auch Neonazis unter die johlenden Fußballmassen.

Noch ambivalenter ist im Übrigen die deutsche Nationalhymne, die neuerdings auch wieder deutlich und öffentlich mitgesungen wird: Die Melodie stammt aus der Feder des österreichischen Komponisten Joseph Haydn. Er komponierte sie in Wien als Grundlage für die habsburgerische Kaiserhymne, basierend auf einem kroatischen Volkslied. Den Text hat der deutsche Dichter Heinrich von Fallersleben 1841 als „Deutschlandlied“ auf der damals britischen Insel Helgoland verfasst, und er handelt unter anderem von den Außengrenzen des im 19. Jahrhundert sehr uneinheitlichen deutschen Reiches, um die innere Zerrissenheit zu überspielen. Diese Insel in der Nordsee, die Deutschland nach dem ersten Weltkrieg gegen die Kolonie Sansibar tauschte, diente im Zweiten Weltkrieg als nördlichster U-Boothafen der Nationalsozialisten. Die Militärs durchlöcherten die Insel wie einen Schweizer Käse mit unterirdischen Bunkergängen, welche am Ende des Krieges in die Luft gesprengt wurden. Eine Hälfte der Insel brach ab und versank im Meer. Heute ist Helgoland ein Mekka für Birdwatcher (Trottellummen). Und gesungen wird nur noch die dritte Strophe – in der keine Grenzen vorkommen.

Ja, es geht um Details, wenn wir über Geschichte sprechen, allgemeingültige Symbole (Flaggen, Monumente) kann es eigentlich nicht geben. Ich glaube immer mehr, das wir nur Vorübergehende in der Gegenwart sind weniger als von der Vergangenheit bestimmte Existenzen; wir sind Passanten der Geschichte, Passanten in der Geschichte, mikroskopisch klein (wie Lena Zuñiga sagt), aber jeder an seinem Ort wichtig. Wo wir morgen sein werden, in welcher Geschichte, hängt von uns ab. Nicht von einer Flagge.

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Eine Jugend voller Schuld hat Folgen http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/eine-jugend-voller-schuld-hat-folgen/ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/eine-jugend-voller-schuld-hat-folgen/#comments Tue, 06 Jul 2010 16:57:33 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=424 Manchmal frage ich mich, was sich unsere Eltern wohl gedacht haben, wenn sie in den 80ern und 90ern im Kinder- und Jugendbuchladen nach neuen Kinder- und Jugendbüchern für uns Ausschau hielten? „Ui, ein Buch über einen 14-jährigen Flakhelfer, der in den letzten Kriegstagen getötet wird. Das nehmen wir!“ Und: „Oh, ein Buch über eine Zugfahrt nach Birkenau. Und am Ende sind alle tot. Das nehmen wir auch!“ Oder: „Oh lala, ein Buch über einen Widerstandskämpfer, der von der Gestapo zu Tode gefoltert wurde? Davon nehmen wir gleich drei.“

Was auch immer sie sich gedacht haben, sie haben mich früh zum Rechnen in Millionenbeträgen gebracht: 42.000 Zuschauer passten in das Stadion meiner Heimatstadt, ich stellte mir 1000 mal dieses Stadion vor, ausverkauft, 1000 Stadien aus der Luft, wie auf Kästchenpapier. Was Neunjährige halt so tun, wenn ihnen beständig gesagt wird: „Sechs Millionen!“

Dauerberieselung in Fragen einer monströsen „deutschen“ Schuld

Auf dem Gymnasium übernahmen die Geschichtslehrer: Ein konservativer zeigte uns den „Hitler“-Film von Joachim Fest und sich auch sonst recht überzeugt davon, dass es ohne das Charisma jener einen Person nie so weit gekommen wäre. Ein Marxist sprach viel von der Krise des Kapitalismus und den Verwicklungen des preußischen Großkapitals in Hitlers Aufstieg. Ein Intellektueller, dessen Frau Psychoanalytikerin war, las mit uns Klaus Theweleits „Männerphantasien“ und versuchte, uns von der verheerenden Rolle der preußischen Kadettenanstalten zu überzeugen. Welche Deutungsvariante auch vorgezogen wurde, eine westdeutsche Jugend in den 80ern und 90ern war stets düster eingefärbt: Es herrschte Dauerberieselung in Fragen einer monströsen, wenn nicht Kollektiv-, so doch eindeutig „deutschen“ Schuld.

Heute wird diese „schwarze Pädagogik“ gerne angeprangert, bevorzugt von jenen unheiligen Allianzen aus liberalen, libertären und nationalen Kräften, die sich auch gegen „Denkverbote“ stark machen und die „Diskriminierung“ derer geißeln, die keine „Maulkörbe“ mehr tragen wollen, „nur weil vor 70 Jahren …“. Wenn eine grenzdebile Nachrichtenvorleserin mit dem „Man muss auch mal sagen dürfen …“-Timbre in der Stimme die Olympischen Spiele von 36 für ihre perfekte Organisation lobt (ist noch nicht passiert, wird aber kommen), stehen diese „Neuen Konservativen“ bereit, um ihr ein „Forum“ zu geben, weil man „das in einer Demokratie aushalten können muss“.

„Kann man jetzt nicht langsam mal wieder?“ Nein, kann man nicht!

Muss man das wirklich? Ich meine nicht – meine Eltern, Lehrer und die Autorinnen und Autoren der Jugendbücher können in diesem Punkt wirklich stolz auf mich sein: Die Erziehung hat funktioniert, in der Krise der deutschen Schuldkultur erweist sich mein Temperament als erstaunlich krisenfest! So sicher, wie ich sonst für jeden Post-Irgendwas-Theoriescherz zu haben bin, so sicher gehe ich in absolute Relativismusverweigerung, wenn es um die Geschichte meines Landes geht. Und darum, ob man „denn jetzt nicht langsam mal wieder …“ Nein, kann man nicht! Und wenn neun Stunden „Shoa“ nicht reichen, um das ein für alle mal klarzumachen, dann weiß ich’s auch nicht.

Man muss hierzulande kein eingefleischter Marxist sein, um den Sinn der Geschichtsschreibung darin zu sehen, dass sie Irrwege der Geschichte expliziert und Menschen mit einem Funken Herz und Verstand sagen lässt: „Nie wieder!“ Und zwar immer wieder. Und wenn nun also Leute daherkommen und sagen, es müsse nun „auch mal gut“ sein, dann habe ich immer kurzzeitig den Impuls, ihnen von meiner schuldgetränkten Jugend zu erzählen und sie sodann mit den Worten abzufertigen, mit denen auch unsere Großeltern ihre Geschichten von einem zeitlich nicht näher bestimmten „Früher“ beschlossen: „Hat es mir vielleicht geschadet???“

Gefühlschaos aus Mitleid und voyeuristischer Lust

Im letzten Moment beherrsche ich mich dann, denn ich bin ja viel zu ehrlich, um die Frage unserer den Führer im Früher unterschlagenden Großeltern für mich eindeutig mit „Ja!“ zu beantworten. Natürlich hat mir das alles geschadet! Wahrscheinlich habe ich sogar ein handfestes Dritte-Generation-Trauma und schreibe deshalb hier so konfuse Sachen. Meine Jugendlektüren – als erstes las ich im Alter von acht Jahren Judith Kerrs relativ harmloses ‚Als Hitler das rosa Kaninchen stahl‘ – waren das morbideste, was man sich nur vorstellen konnte – trotzdem fesselten sie mich wie sonst kaum was. Die Bücher stürzten mich zuverlässig in ein Gefühlschaos aus Mitleid und voyeuristischer Lust an der totalen Vernichtung. Das Gute aber war: Ich musste mich früh mit genau jenen Regungen meines Wesens kritisch auseinandersetzen. Ich merkte bald, dass ich den Dreck in mir trug. Nicht, weil ich Deutscher war. Aber weil ich Deutscher war, wurde ich rücksichtslos in diese Auseinandersetzung getrieben. Ich betrachte das heute als Privileg.

Wenn ich durch dieses Privileg eins über die Geschichte meines Landes gelernt habe, dann, dass sich neben allen Revisionismen und Verharmlosungen auch ausufernde dekonstruktivistische Eierschaukeleien à la „Was ist denn überhaupt ein Irrweg?“ verbieten. Wer schon als Kind auf Du und Du mit der Dichotomie „böse“ und „gut“ war und merkte, dass die Grenze einmal quer durch die eigene Familie und sogar durch die eigene Person verläuft, ist auf angenehme Weise etwas weniger tolerant gegenüber intoleranzverherrlichenden Toleranzausbeutern. Er kennt den Feind und nennt ihn so.

Man kann eben nicht alles „so und so“ sehen!

Ich kann mir inzwischen ganz gut denken, was sich meine Eltern gedacht haben, als sie Regalmeter um Regalmeter Krieg, Flucht und Vernichtung herbeischafften: Sie wollten aus ihren Kindern anständige Menschen machen (zumindest hoffe ich das mehr, als dass ich ihnen irgendeinen sado-masochistischen SS-Fimmel unterstellen würde). Sie wollten, dass wir aus der Geschichte „was lernen“, was Adorno angesichts der totalen Menschheitskatastrophe wohl für so deplatziert und naiv gehalten hätte wie ein Friedensliedchen von Joan Baez, aber das tut hier nichts zur Sache. Meine Eltern wollten zeigen, dass man nicht alles „so und so“ sehen kann, sondern manches auch mal nur „so“. Und dass es manchmal einfach keine Diskussion gibt, was denn nun „richtig“ und „anständig“ sei. Ich bewahre die Bücher auf. Für meine Kinder.

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Unsichtbare Götter http://superdemokraticos.com/laender/peru/unsichtbare-gotter/ http://superdemokraticos.com/laender/peru/unsichtbare-gotter/#comments Tue, 29 Jun 2010 07:22:24 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=331 (Geschichte ist, wie auch die Vergangenheit, ein vages Konzept; die Geschichte verfolgt die Gegenwart und manchmal erreicht sie sie, um sich in einem leidenschaftlichen Kuss oder einem Kampf, in dem alles erlaubt ist, zu vereinigen.)

Mit der Universalgeschichte und der peruanischen Geschichte kam ich erstmals während der Grundschulzeit in Kontakt. Ich erinnere mich an kein einziges Datum einer Schlacht, aber wohl an die Korridore im Nationalmuseum, wo wir uns Huacos (feine Keramikgegenstände), zeremonielle Becher, Webstühle aus der Kultur Paracas (eine präkolumbische Kultur), das Tumi de Oro (zeremonielles Goldmesser einer präkolumbischen Kultur) anschauten. Wo wir die Lebensart prähispanischer Zivilisationen untersuchten, ohne sie zu berühren oder uns anzulehnen. Besonders gern erinnere ich mich an die leer stehende Etage, die verlassenen Ausstellungsräume, wo mein Schulfreund und ich uns so viele Küsse gaben, unterbrochen allein durch die Schritte vorbeigehender Restauratoren und Museumsangestellten.

In Folge der Veröffentlichung des Berichts der Wahrheits- und Versöhnungskommission wurde kürzlich der Bau eines Museums der Erinnerung beschlossen, um den Tausenden von Verschwundenen aus der Zeit der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der Guerilla „Sendero Luminoso“ (Leuchtender Pfad) und dem Militär – und der Bevölkerung zwischen den Fronten – zu gedenken. Viele leisten heute Widerstand gegen das Museum und versichern, es sei besser, wenn wir einfach alles hinter uns lassen.

Ich misstraue nicht den Tatsachen, sondern den Worten, den Absichten, den Interessen, einigen Botschaften an die Nation. Da ich aber die Medien, die über Tatsachen berichten, in Frage stelle, folgt daraus, dass ich mir im Endeffekt fast nichts sicher bin. Heute empfinde ich es eher so, dass wir die Geschichte in eben diesem Augenblick machen. Ich zweifle nicht an den unvergleichlichen Chroniken des Indigenen Guamán Poma de Ayala, dessen Illustrationen bis heute die bildenden Künstler Perus inspirieren und auf eine Sammlung von Zeugnissen zurückgehen, die von der Pracht und dem blutigen Niedergang des Inkareichs berichten. Ich zweifle nicht an der dramatischen Szene, in der ein Geistlicher mit der Bibel in der Hand den Inka-Herrscher Atahualpa dazu drängt, sich im Namen Gottes zu ergeben, woraufhin der Inka den Gegenstand begutachtet und zu Boden wirft, da er ihn für unnütz hält – ein Akt, der den Zorn der Spanier entzündet, die sodann ihre Pferde antreiben und das Feuer auf den Feind eröffnen. Atahualpa wird gefangen genommen. Er füllt einen Raum bis zur Decke mit Gold, um seine Freiheit zu erkaufen. Die spanischen Eroberer aber teilen den Reichtum unter sich auf und richten Atahualpa dennoch hin.

Ich habe das Haus des Lösegeldes in Cajamarca besucht, das so leer ist, dass es strahlt wie kein anderes. Die Götter Perus waren sichtbar: die Mutter Erde, die Sonne, die Berge, der Regen; und die Kultur des Landes war eine orale. Auch heute noch wird in ländlichen Gebieten der Natur Tribut gezollt, die uns ernährt und die sich großzügig und fruchtbar erweisen wird, wenn wir sie respektieren. Die „moderne Welt“ wird sich der Vernunft dieser schlichten Vereinbarung erst langsam bewusst, zu einem Zeitpunkt, in dem die Folgen der Unvernunft bereits nicht wieder gutzumachen sind, während die indigene Bevölkerung bedroht und systematisch missachtet wird, indem die Regierung das von ihnen bewohnte Land privatisiert und an Öl- und Holzunternehmen verkauft, ohne die Bevölkerung zu konsultieren oder zu berücksichtigen.

Verbitterung entsteht aus der langen Geschichte kriegerischer (und fußballerischer) Niederlagen. Jene Älteren, die versichern, die wahre Geschichte, die in keinem Schulbuch steht, zu kennen, werfen uns vor, wir seien immer sehr naiv und ungeschickt gewesen. Andererseits ist das ruhmreiche Imperium der Inkas wie auch die wunderbaren prähispanischen Bauten Anlass zum Stolz. Einige unter ihnen weisen ein solch hohes Niveau der Baukunst auf, dass eine Gruppe begeisterter Wissenschaftler ihre Entstehung Außerirdischen zuspricht.

Aber aus den eigenen Erlebnissen habe ich am meisten gelernt: In den 90er und 00er Jahren, als die Kämpfe sich auf meiner Straße und auf meinem Fernseher abspielten, und ich vor die Entscheidung gestellt war, an ihnen teilzunehmen oder nicht.

Ich lernte, dass der Betrug und die Korruption der politischen Klasse Verdruss und Gleichgültigkeit in der Bevölkerung auslösen. Dass die Medien, Unternehmer, Kongressteilnehmer usw. sich in Versammlungen dem Meistbietenden verkaufen. Diese Versammlungen wurden während der Regentschaft Alberto Fujimoris auf selbstgemachten Videos, genannt Vladivideos, aufgezeichnet, die bis heute unter Interessierten auf dem schwärzesten aller Märkte zirkulieren. Ich lernte, dass das Volk den Diktator wiederwählte, der eine Gruppe Paramilitärs unterstützt hatte, welche sich als Nachrichtendienst tarnte und der dreist das nationale Erbe stahl. Er wurde wiedergewählt, weil er „standfest war und Taten sehen ließ“. Ich stelle das moralische System des Großteils der Wähler in Frage sowie die Fluchthaltung von uns Jugendlichen, die wir in Ermangelung an Alternativen an den Tag legen bis wir vielleicht mit ein wenig Glück eines Tages bereit sein werden, größere und wichtigere Ideale zu verfolgen.

Maxi ist eine Frau, die fast 15 Jahre lang bei uns Zuhause im Haushalt arbeitete. Sie lehrte mich, in Quechua zu singen, sie spielte Gitarre und litt unter furchtbarer Schlaflosigkeit, die schlimmer war als meine eigene. Als ich sie kennen lernte, muss sie ungefähr 16 Jahre alt gewesen sein, ich etwa 6. Sie sagt immer, dass ich mir die Hose falsch herum anzog, ich bezweifle auch das. Die jugendliche Maxi war auf der Flucht vor dem Terrorismus nach Lima gekommen. Sie kam aus Ayacucho, der Wiege des „Sendero Luminoso“ und ohne Zweifel die Zone, die am meisten unter der Gewalt dieser Organisation litt, aber auch unter den Militärs, die die Bevölkerung ohne stichfeste Beweise anklagten, verhafteten und ermordeten. Als Kind erlebte Maxi schreckliche Dinge und sie hatte schmerzhafte und wiederkehrende Alpträume. Nachts studierte sie Journalismus und nach ihrem Studienabschluss hörte sie auf, als Hausmädchen zu arbeiten. Hin und wieder kehrte sie nach Ayacucho zurück, um ihre Mutter zu pflegen, eingeschüchtert durch den Mörder ihres Vater, der sie verfolgte und bedrohte. Maxi kennt ihre Rechte und sie hatte den Mut, den Mörder ausfindig zu machen und anzuzeigen, aber der Prozess war nicht erfolgreich. Jetzt arbeitet sie im Urwald für ein Radioprogramm. Es wird von einer Organisation produziert, die die Koka-Bauern zu einer Umorientierung bewegen möchte. Diesmal ist es der organisierte Drogenhandel, von dem sie bedroht wird.

Das letzte Mal sah ich sie bei einem Konzert. Begleitet von einem legendären Geiger, unterhielt sie gemeinsam mit ein paar anderen Frauen das Publikum mit Musik aus den Anden. Ihre Interpretation von vier Themen war sehr eindringlich, ihre Stimme transportierte große Gefühle, sie schloß die Augen und wog sich im Rhythmus sanft hin und her. Sie ist die einzige Sängerin, die mich zu Tränen rührt, und wenn sie mich weinen sieht, lacht sie und umarmt mich.

 

Übersetzung: Marcela Knapp

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