Argentinien – Los Superdemokraticos http://superdemokraticos.com Mon, 03 Sep 2018 09:57:01 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=4.9.8 Kooperative Bewegung und Revolution http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/kooperative-bewegung-und-revolution/ Tue, 06 Dec 2011 23:02:09 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=5720 Kooperative Bewegung und Revolution: Pappe, Bücher, Karotten, Liebe, Poesie, Sex, Cumbia und alles andere

Néstor Kirchner starb und mit ihm ein großer Teil der zeitgenössischen argentinischen Geschichte. Nun beginnt eine neue Nation.

Nach dieser ganzen Aufregung sind nur wir geblieben, wir, die wir auch von dem Kirchnerismus auf den Straßen waren, die wir immer noch dort sind und auch danach noch dort sein werden. Die Überlebenden der harten Krisenzeiten.

Mein Name ist Santiago Vega. Ein hübscher Name, oder? Dennoch machte mich das Leben und die Arbeit zu einem politischen Tier, wie der argentinische Autor Fabián Casas sagte, aber letztendlich zu einem Monster: Cucurto.

Entschuldigt bitte, dass ich zu Beginn über mich sprechen muss, aber alle Eindrücke, die im Folgenden über das Hin und Her der Literatur der letzten Jahre kommen werden, bergen ein persönliches Gefühl. Es ist etwas, das mich direkt betrifft.

Nächstes Jahr, 2012, wird die Kooperative, für die ich arbeite, zehn Jahre alt. Das sind viele Jahre, in denen Bücher aus Pappe produziert wurden! Ich bin sehr zufrieden damit, mein Leben ist fast filmreif. Ich habe alles sehr genossen und bin sehr dankbar dafür, nie bei Eloísa Cartonera aufgehört zu haben. Ich wäre ein undankbarer Mensch, wenn ich mich nicht bei aller Welt bedanken würde. Deshalb: Welt, vielen Dank!

Seit ich angefangen habe zu schreiben, dachte ich immer an die Möglichkeit, ein Literaturproduzent zu sein, Träume von körperlichen Vereinigungen; ich träumte davon Erzeuger von Kindern, Gedichten, Illusionen, wahnsinnigen Projekten und vielen mehr zu sein. Davon habe ich schon einiges geschafft.

Mir kam es immer schon so vor, als wäre die Literatur kein sooo schwieriges Terrain; dass es sich auch ein durchschnittlicher Mensch aus der unteren Mittelschicht leisten könne Bücher zu lesen, Gedichte und Romane zu schreiben und sie sogar selbst herausgeben kann, damit viele Menschen diese lesen können. Ein wundervoller realer Traum.

Angesichts so viel schematischer Darstellung, Überprofessionalisierung und einem überraschenden Fehlen an Sensibilität vor der Ungerechtigkeit der Welt, war unsere einzige Möglichkeit zu überleben einen Pappkartonverlag zu gründen.

Wahrscheinlich lernte ich durch Eloisa Cartonera, dass die Literatur, die Lektüre der Bücher, das Schreiben von Gedichten, die Arbeit, die man selbst erschafft und die Herstellung von Büchern aus Pappkarton, großartige Werkzeuge sein können, um mein Leben zu verändern. Oder wenigstens eine Einladung, um erst zu träumen und danach die Herausforderung anzunehmen, meine Träume in die Realität umzusetzen.

Ich habe ebenfalls gelernt, das derjenige, der träumt auch liebt, dass derjenige, der liebt zufrieden lebt (obwohl die Liebe uns manchmal leiden lässt) und dass Träumen in einem großen Maß Teil der Liebe ist. Nach dem Traum kommt das Sich-Verlieben. Und mit Eloisa wurde ich zu einem permanenten Träumer, also zu einem Liebhaber mit aller Leidenschaft.

Die Liebe besteht aus Spielen, Träumen, Wagnissen, Fantasien, und genauso war mein Leben in den letzten Jahren, ich spielte den Herausgeben, spielte den Vater, spielte einen guten Partner. Und ich wiederhole es nochmal: All das habe ich in einem gewissen Maße erreicht und ich bin zufrieden.

Ich habe gelernt, dass Verlegen und Schreiben dringende Angelegenheiten sind, dass nicht Wochen vergehen dürfen eh man ein Buch veröffentlicht. Das Konzept von O. Lamborghini – morgens zu schreiben und nachmittags zu veröffentlichen – wurde zu etwas Fundamentalem. Man darf keine Zeit verlieren. Der Nachmittags als einziger Horizont, Spätnachmittags als das absolut Späteste.

Und genau deshalb brachten wir in diesen Tagen Jahren der Existenz fast 200 Titel heraus und produzierten viele Tausende von Bücher, die ihren Weg in der Welt machten. Und dieses schwindelerregende Gefühl, Herausgeber zu sein, einen Verlag superschnell aufzubauen, hat mich zu einem Lehrling gemacht.

Bis zum heutigen Tage weiß ich nicht, welches der Gedichte oder der Geschichten, die ich verfasste, von mir ist oder sich mit etwas von Aira, von Perlongher oder von Piglia vermischt.

Und ich habe es nachgemacht. Ich lernte, dass Schreiben und Herausgeben dringende Angelegenheiten sind, die man nicht aufschieben kann. Herausgeben, fast ohne zu denken, schreiben, fast ohne zu denken. Oft hatten wir noch nicht einmal Zeit, etwas zu korrigieren. Niemand interessierte sich für die literarischen Errungenschaften, hier sind wir und produzieren ohne Unterbrechung Bücher. Bücher, die der ganzen Welt gefielen.

Pappkarton, Bücher, Karotten, Liebe, Poesie, Sex, Cumbia und alles andere.
Jetzt sind wir bei den Karotten angelangt, bei den Samen der Kürbissen, und lernen die Pflänzlein zu gießen und die Möglichkeiten der Verbesserung zu sehen. Wir haben in Florencio Varela einen Hektar Land gekauft und träumen davon Landwirte zu sein. Ich hoffe es wird nicht allzu schwer!

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Das panamerikanische Ebook http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/das-panamerikanische-ebook/ Tue, 29 Nov 2011 05:55:09 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=6034 Die Argentinierin Patricia Arancibia lebt schon lange in New York und leitet den Ankauf der internationalen Bücher bei Barnes&Nobles. Die US-amerikanische Buchhandelskette setzt nämlich verstärkt auf die Kaufkraft spanischsprachiger US-Amerikaner und startete im November 2010 den Ebook-Shop Nook español mit 24.000 verkaufbaren Titeln. Denn der Markt ist da, sozusagen panamerikanisch: 50 Millionen US-Latinos leben in den Staaten, 4,8 Millionen in Puerto Rico; im Jahr 2050, schätzt man, werden es 133 Millionen sein. Damit ist die US-amerikanische Latino-Bevölkerung die zweitgrößte nach Mexiko. 35 Millionen US-Amerikaner sprechen Spanisch zu Hause (Zahl von 2008), bereits 2009 waren 26 Prozent der Kinder unter 5 Jahren in den USA spanischsprachig. „Wir vermehren uns schnell“, weiß die Managerin, die mit Zahlen nur so um sich werfen kann. Und sie betont: Die US-Latinos sind nicht technologiescheu: bereits mehr als die Hälfte haben ein Laptop und nutzen Wi-Fi.

Im Mini-Interview gibt sie den Deutschen einen Ratschlag, wie sie ihren derzeit noch weniger als 1 Prozent Ebook-Marktanteil steigern können: Der große Vorteil des deutschen Buchmarktes sei das große Angebot an bereits verfügbaren digitalen Titeln, die Lesegeräte müssten sich nur stärker verbreiten. Leser seien die Deutschen ja zum Glück schon…

[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=MC10HYAZE7c[/youtube]

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Imagination http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/imagination/ Tue, 03 May 2011 07:00:29 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3654

„Manchmal entführen Außerirdische meine Vorstellungskraft. Dann zeichne ich nach der Realität.“ (c) powerpaola

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„Frohe Weihnachten, maradonianischer Bruder!“ http://superdemokraticos.com/themen/geschichte/%e2%80%9efrohe-weihnachten-maradonianischer-bruder%e2%80%9c/ Mon, 13 Dec 2010 10:58:41 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=3387

Hochzeit am Weihnachtsabend: Die Paare versprechen, männlichen Nachwuchs mit zweitem Namen Diego zu nennen.

Ich feiere jedes Jahr zweimal Weihnachten. Das erste Mal Ende Oktober mit der maradonianischen Kirche: Am 30. Oktober wurde Diego Armando Maradona geboren, Jesus und Erlöser vieler argentinischer Fußballfans. Die zweite Feier ist am 24. Dezember, dem Geburtstag des herkömmlichen Jesus.

Eigentlich war alles zunächst nur ein Scherz: „Frohe Weihnachten“, sagte Hernán Amez einmal an einem 30. Oktober zu seinem Freund Alejandro Verón am Telefon. „Weihnachten?“ fragte Alejandro. „Na, überleg mal, wer hat heute Geburtstag?“, sagte Hernán, wie Alejandro Sportreporter im lokalen Radio. Alejandro verstand: „Frohe Weihnachten, maradonianischer Bruder!“ Die Freunde gründeten die Iglesia Maradoniana. Sie besorgten Messwein, beteten das erste „Diego unser“ und legten die zehn Gebote der Maradonianischen Kirche fest. Seitdem singen die Jünger jedes Jahr wieder das „Ave Diego“, kleben das Gesicht Maradonas auf Christbaumkugeln, essen Pizza und trinken Bier.

„Ziel der Iglesia Maradoniana ist es, Maradona zu ehren und seine Wunder zu verkünden. Wir wollen nicht, dass ihm erst gehuldigt wird, wenn er tot ist“, erklärte Alejandro Verón, als ich die Maradonianer zum ersten Mal besuchte. „Wir sind fast alle katholisch. Der christliche Gott ist für uns der Gott des Verstandes, Diego ist der Gott der Herzen.“ Das beste Beispiel dafür sei seine Schwester Jaquelin. Sie hat drei Mal geheiratet, standesamtlich, kirchlich, maradonianisch. Jaquelin und ihr Mann Mauricio schworen sich in einem Stadion die Treue, legten dazu die Hände auf einen Ball und lasen aus der maradonianischen Bibel.

Wer denkt, er kann dem Weihnachtsterror entfliehen, wenn er auf die Südhalbkugel reist, täuscht sich

Mein zweites Weihnachtsfest findet am 24. Dezember statt und ist wesentlich weniger exotisch. Denn die meisten Weihachtstraditionen in Argentinien stammen von den Einwanderen aus Europa. Obwohl sie eigentlich nicht zur Jahreszeit und zum Kontinent passen: Auf der Südhalbkugel ist im Dezember Hochsommer. Trotzdem sieht man überall Kunstschnee auf Kunsttannen bei 35 Grad, es gibt schweres Essen (kann auch eine Weihnachtsgans sein), hört Weihnachtslieder mit Textzeilen, in denen schneit, vor den Einkaufszentren leiden Weihnachtsmänner unter ihren roten Sauna-Mäntelchen. Irgendwie passt das alles nicht zusammen. Trotzdem legt man in katholischen Familien die Geschenke unter den geschmückten Baum (im Nordwesten Argentiniens habe ich mangels Nadelbäumen auch schon mit Lametta behängte Kakteen gesehen). Und tut um Mitternacht so, als sei schon Silvester: Es gibt Sekt und überall donnern die Böller. Das Programm an Silvester ist übrigens sehr ähnlich: Essen mit der Familie. Sekt und Böller um Mitternacht.

PS: Es soll Touristen geben, die in ihrem Reiseführer die Maradonianische Kirche suchen und schwer enttäuscht sind, weil sie keine Adresse finden. Achtung, Missverständnisalarm! Die Maradonianische Kirche ist kein Gebäude aus Stein und Mörtel. Sie ist ein Zusammenschluss enthusiastischer Fans. Nicht mehr – aber auch nicht weniger!

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Ontbijtjes http://superdemokraticos.com/themen/globalisierung/ontbijtjes/ Thu, 21 Oct 2010 13:23:05 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2671

29a Bienal SP © Sabine Scho

Zurück am Schreibtisch in São Paulo, den Blick auf die Sendemasten der Avenida Paulista gerichtet, der Verkehr rauscht, Kinos in Laufnähe, den Ibirapuerapark mit der Biennale vor der Tür. Ein privilegiertes Leben und doch ein wenig lost in Translation und im falschen Film, aber, was solls, was schadet schon das Wandern, wenn Romulo Froes nicht weniger schön als David Bowie Lieder von einer jedweden Odyssee zwischen Bangkok und Calgary zu komponieren weiß.

Ich kann eigentlich nur Melancholie, was soll ich auch anderes zu Wege bringen, wenn mich einsame Langstreckenläufer oder frühe zu Bett Gänger, oder eigenschaftslose Männer, die sich ein Jahr Urlaub von ihrem Leben nehmen, also kurz gesagt, Protagonisten, die nichts beherzt angehen, sondern sich treiben lassen, für sich einnehmen?

Müßiggänger, erdacht von Menschen, die wohl alles andere als das waren, sondern unermüdlich an abgelehnten Habilitationen schrieben, mit der immer wieder enttäuschten Hoffnung auf Arbeit, die endlich mal ein angemessenes Auskommen hätte gewähren können, und die ihrer Berliner Kindheit nachsannen: Wie sie dem Fischotter zusahen, der im Dunkel des Teichs verschwand, wie sie in der Dämmerung dem verhaltenen Knall beim Entzünden der Gaslaterne lauschten, wie sie das Telefon und damit die Geschäftigkeit der Kontrakte machenden Welt in ihre Verstecke einbrachen sahen, wie sie ihren Blick immer rückwärts richteten und ein Sturm vom Paradies sie mit dem Rücken in die Zukunft blies.

Und nicht viel mehr wünsche ich mir von Dichtern heute, als dass sie wie Wolfgang Herrndorf schreiben: „Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet. Als in Garstedt das Strohdachhaus abbrannte, als meine Mutter mir die Buchstaben erklärte, als ich Wachsmalstifte zur Einschulung bekam und als ich in der Voliere die Fasanenfedern fand, immer dachte ich zurück, und immer wollte ich Stillstand, und fast jeden Morgen hoffte ich, die schöne Dämmerung würde sich noch einmal wiederholen.”

Es ist die Knipserin in mir, die sich diesen Stillstand wünscht, einen freeze frame, die nach einem Eishockeyspiel, wie der Kupferstecher die Radierung von der Platte, die Zufallsgrafik der Kufen vom Eisfeld nehmen möchte und darin Sieg und Niederlage nicht anders deuten könnte, als ein Falkner die Himmelsspur seines Raubvogels. Bilder, aus denen die Motive längst entschwunden sind. Vielleicht, weil ich mich noch nie zur rechten Zeit am rechten Ort wähnte und mich nie wirklich nah genug heran wagte, um mit Robert Capa sagen zu wollen: If your photographs aren’t good enough, you are not close enough.

Ich war immer erst zur Stelle, wenn das Konzert schon begonnen hatte und die Party schon abgefrühstückt war. Vielleicht daher auch der Wunsch, die Welt wie ein Ontbijtje zu lesen, ein Barockstilleben, dass mehr noch von einem Zuspätkommen als einer Stellvertretung der Menschen erzählt, und vielleicht auch daher die Melancholie, die ihre autosentimentalen Geschichten nie aus der Gegenwart schöpft, sondern etwa aus einem Regentag in einem Hamburger Fahrradladen, in dem sie einmal selbstvergessen stand, um sich ein Bild zu machen für ihr Album:

tagessieger

ich sah euch alle wanken a. rimbaud

contre la morte im wiegetritt
im frühjahr vielleicht
durch den rahmen bläst es
gischt und schaum in dolden
wenn winde gehen, segeln
fallen die treidler zurück
können nicht mehr folgen
treiben auf den planken
ihrer leicht gebauten räder
gemartert wie an bunten pfählen
gejohle um sich her, kurbeln
wie verrückt, mit nach innen
verlegten zügen, ein sehnen-
relief aus gliedern, und einem
geharnischten blick

ihr treibgut bin ich
verkapselte strapaze
pochen in den schläfen
reißen in den beinen
ich trete auf der stelle
die bilder lernen laufen
praxinoscoper reigen
ohne ende, die ankunft
auf die schnelle
muss enttäuschen
die knie schmerzen
schweißperlenbildend
schweigend, der narr in gelb
der den weg zum sieger kürt

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Als Juan Gelman die Mystiker las http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/als-juan-gelman-die-mystiker-las/ Tue, 12 Oct 2010 07:26:31 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2838

Der Dichter Juan Gelman wurde 1930 als Kind russisch-jüdischer Migranten in Buenos Aires geboren und gehörte der Dichtergruppe Pan Duro (Hartes Brot) an. Außerdem arbeitete er als Journalist. 1975 ging er wegen der argentinischen Militärdiktatur ins Exil, sein Sohn wurde entführt und getötet, ebenso dessen schwangere Frau. Über einen Jesuitenpater in Rom erfuhr Gelman „The child was born“. Heute lebt Gelman in Mexiko. 2007 erhielt er den Premio Cervantes. Wir fragten ihn nach der Rolle des Intellektuellen heute, aber er wollte dazu keine Auskunft geben. Warum, erklärt unten einer seiner Leser. Der Mitschnitt des Podiumgesprächs ist leider sehr leise, aber wir wollten es euch nicht vorenthalten.

„Gelman ist ein Mann der Linken. Er ist ein Mann, der für die Linke seinen Dienste geleistet hat und seiner persönlichen Einstellung konsequent treu geblieben ist. Er hat beispielsweise nie Gewalt unterstützt. Ich glaube, er will über viele Themen seine Meinung nicht offen kundtun, denn er hat Angst, dass man seinem Beispiel folgt. Er versteht, dass junge Menschen – die 16 oder 20 Jahren alt sind – dieses oder jenes tun könnten, weil er das so gesagt hat. Das könnte sehr gefährlich sein, und von diesem Gesichtspunkt aus, ist er verantwortlich für das, was er sagt. Und er will diese Richtung nicht einschlagen. Nur als Leser kann man erfahren, was er denkt.“

Pablo Alfonzo, argentinischer Lektor und Besucher der Frankfurter Buchmesse

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Wenn ich glaube, dass ich gehe, komme ich gerade immer woanders an http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/wenn-ich-glaube-dass-ich-gehe-komme-ich-gerade-immer-woanders-an/ Tue, 12 Oct 2010 07:15:47 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2630 Dieser Text sollte ein Abschied sein. Aber viel mehr als an einen Abschied würde ich mir lieber vorstellen, dass das hier eine Türe ist, die sich öffnet, ein Anfang und eine glückliche Ankunft. Weil jede Abfahrt immer auch eine Rückkehr ist, und jede Erfahrung neue Möglichkeiten eröffnet. Ich denke, dass diese hier, die superdemokratische, sich nicht verabschieden muss. Sie muss sich entfalten, über ihre Grenzen hinauswachsen.

Von Anfang an gefiel mir der Vorschlag. Ich mag kollektive Arbeitsformen und vor allen Dingen die Schöpfung neuer Räume, die es vorher nicht gab, um kreative Äußerungen über die verschiedenen Auffassungen oder Formen, die die Demokratie annimmt, denken zu können. Es gefiel mir, tagtäglich Themen zu überdenken, es war eine Schreibübung, die nicht nur unterhaltsam war, sondern die mich auch über Dinge aus verschiedenen Perspektiven nachdenken ließ. Vorschläge und Erfahrungen zu lesen, die den meinen so verschieden sind, was immer eine Bereicherung ist.

Ich denke auch, dass es mir gefallen hätte, viel aktiver daran teil zu haben und möglicherweise möchte ich deshalb nicht, dass es aufhört. Ich fände es schön, wenn wir es als eine erste Etappe denken könnten und dass nun die nächste erbaut werden muss.

Ich erinnere mich, dass es vor ungefähr einem Monat die Möglichkeit gab, das Blog hier in Buenos Aires zu präsentieren. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich in einer schwierigen Situation und konnte mich nicht mit meinen Co-Bloggern vereinigen, aber ich glaube, jetzt wäre es eine schöne gemeinsame Zeit… Es ist Frühling! Die Bäume blühen, das Grün des Grases bricht zwischen dem Grau des Asphalts hervor. Die Menschen sind fröhlich und die Vögelchen singen.

Und dann frage ich: Tun wir es? Vielleicht mit Agustín, meinem argentinischen Kollegen, und vielleicht hat auch irgendwer anderes darüber nachgedacht, Buenos Aires zu besuchen, hat Lust, sich zu uns zu gesellen… Was sagen Rery und Nikola dazu?

Und eine zweite Möglichkeit, um alle miteinander zu plaudern… wir könnten die Präsentationen reihum durch jedes der Länder rotieren lassen, in denen wir Autoren, die teilnehmen, leben… und wenn nicht… Freunde, Gefährten, wie Gustavo Adolfo Bécquer sagte… Möchtet ihr, dass wir eine süße Erinnerung dieser Liebe bewahren? Dann lieben wir uns heute und morgen sehr. Sagen wir uns Lebewohl!

Aber nein, ich werde mich von niemandem verabschieden, ich werde euch nur sagen, dass es mir ein Vergnügen war, mit euch zu arbeiten, mit euch allen, Autoren, Rery, Nikola, Marcela und all den Menschen, die dazu beigetragen haben, dass das hier hinaus ins Netz geht, danke an alle.

Und bevor ich gehe, schicke ich euch einige Links, die ich schon vor längerer Zeit mit den Superdemokraten teilen wollte, einige Dinge, die hier vor sich gehen… hört den Bands zu, es ist beeindruckend, sie live zu sehen!

Paula Maffia / Lucy Patané und Kompanie
http://www.myspace.com/paulamaffiaylacosamostra
http://www.myspace.com/lastaradas

Hier noch die Fotografien von Natacha Ebers, die mit einer Lochkamera fotografiert und außerdem über eine eindrucksvolle Bilddatenbank verfügt, die das geschäftige Treiben der neuen Bands und Musikgruppen, die durch diese Stadt wandern, aufzeichnet: http://www.flickr.com/photos/natachaebers/

Und ich verabschiede mich nicht, weil immer, wenn ich glaube, dass ich gehe, ich gerade immer woanders ankomme.

noch ist nicht jetzt
jetzt ist niemals

noch ist nicht jetzt
jetzt und immer
ist niemals

A. Pizarnik

Übersetzung: Marcela Knapp

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Ich habe mir die Haare nicht entfernt http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/ich-habe-mir-die-haare-nicht-entfernt/ Mon, 11 Oct 2010 21:25:43 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2887

Pedro Mairal wurde 1970 in Buenos Aires geboren, seine Bücher sind in mehrere Sprachen übersetzt und in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland herausgegeben worden. 2007 wurde er von der Jury der Bogota39 zu einem der besten, jungen Schriftsteller Lateinamerikas erklärt. Er sprach über Argentinien, die Buchmesse und politisches Positionieren:

Wie Borges schon sagte: Man ist leider unvermeidlich Argentinier. Man kann es nicht vermeiden, Argentinier zu sein, man kann es nicht vermeiden, Lateinamerikaner zu sein. Man kann es nicht vermeiden, für die Europäer exotisch zu wirken. Man kann weder versuchen, noch kann man vermeiden, es zu sein. Mich interessiert sehr, wie die Politik und die Geschichte in der Intimität widerhallen, wie sie im Bewusstsein, im Körper widerhallen.

Mich interessiert Politik, wenn die gefällten Entscheidungen schlussendlich im Körper von irgendjemand Wirkung zeigen. Es gibt beispielsweise eine Erzählung über eine Frau, die gefoltert wurde. Sie wurde in den Keller gebracht, in einen Kerker geworfen und angewiesen, sich nackt auszuziehen. Sie wusste, dass sie gefoltert werden würde, aber das erste, an das sie dachte, als zu ihr gesagt wurde, sie solle sich ausziehen, war: Ich hab mir die Haare nicht entfernt. Diese kleine Windung des Gedankens, dieser Moment der Intimität, in dem der Scham größer ist, als alles andere, das ist der Moment, in dem für mich die Prosa eintreten soll. Nicht in der Makro-, sondern in der Mikro-Politik. In jener Intimität, da, wo die politischen Entscheidungen schlussendlich im Bewusstsein, im Körper widerhallen, und eine persönliche Verzweiflung hervorrufen. Ich versuche immer zu vermeiden, mich politisch zu positionieren. Das passt am besten zu meinem Wesen. Ich habe keine klare politische Einstellung. Das hängt ziemlich von der Laune ab, mit der ich morgens aufstehe, außerdem fühle ich mich durch keine der derzeitig in Argentinien existierenden politischen Parteien tatsächlich vertreten. Demnach fühle ich mich politisch ziemlich frustriert.

Ich bin mit der persönlichen Freiheit der Demokratie aufgewachsen, das ist die Kultur, die mich prägte. Die Gefahr, in der unsere Generation sich befindet, ist, dass wir sie als selbstverständlich ansehen. Aber wir sollen nicht vergessen, dass es etwas ist, das man erreicht hat, etwas, zu dessen Erhaltung man beigetragen hat, und in diesem Punkt glaube ich schon, dass ich eine persönliche Verantwortung habe, die darin besteht, für das Thema zu sensibilisieren.

Ich habe nur zwei Hallen von der Messe gesehen. Mir kommt es vor, als wären es mehrere Messen zusammen, es ist monströs, riesig, unüberschaubar. Ich war noch nie auf einer so großen Buchmesse. Ich versuche, alles zu sehen, was ich schaffe, aber ich weiß, dass es unmöglich ist, alles zu sehen.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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„Weder bin ich ein Star, noch seid ihr nur das Publikum“: Interviews mit Fabián Casas http://superdemokraticos.com/laender/argentinien/espanol-ni-soy-una-estrella-ni-vos-sos-solo-el-publico-entrevista-con-fabian-casas/ Mon, 11 Oct 2010 12:54:12 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2835

Fabián Casas wurde 1965 in Buenos Aires geboren. Er avancierte zu einem Vorbild der neuen Schriftstellergeneration für sein Land und für ganz Lateinamerika. 2007 wurde er in Deutschland mit dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. Auf der Frankfurter Buchmesse stellte Casas seinen Gedichtband Mitten in der Nacht und seine zwei Erzählungen Lob der Trägheit gefolgt von Die Panikveteranen vor. Zwei Interviews.

Wie definierst du einen Intellektuellen?

Jeder Mensch, der mit Ideen arbeitet, ist ein Intellektueller. Mir gefällt es, wenn es Überschneidungen zwischen den Dingen gibt, dass die Menschen, die mit Ideen arbeiten, mit dem Leben verbunden sind. In diesem Sinne sind die Intellektuellen, für die ich mich interessiere, Menschen, die mit dem Leben arbeiten. Schopenhauer sagte einmal, dass man einer Philosophie, bei der man nicht das Zähneknirschen zwischen den Seiten hört, nicht vertrauen kann. Und ich denke, er hat recht. Hegel, um bei den Deutschen zu bleiben, erscheint mir dagegen viel verkopfter und wenig lebhaft. In der Zeit, in der sie unterrichtet haben, war der Hörsaal von Hegel voll, der von Schopenhauer hingegen leer. Ich glaube, das lag daran, dass Schopenhauer die Dinge sagte, die niemand hören wollte.

Ein Rat für junge Intellektuelle?

Ich denke, wenn eine Person aus Lateinamerika ihre Ideen verbreiten, schreiben will oder ihre Fähigkeit der Wahrnehmung ausdrücken will, muss sie diese Dinge schnell machen. Man muss Liebe für sein Schicksal empfinden, darf nicht denken, dass das Leben einem etwas schuldet, sondern den Stier bei den Hörnern packen und etwas machen, die technischen Hilfsmittel schaffen, mit denen man sich Gehör verschaffen kann. Man muss begreifen, dass die Literatur nicht etwas Individuelles, sondern etwas Kollektives ist, du muss dich mit anderen Menschen zusammentun, damit deine Botschaft ankommt. Denn genau diese Zusammenarbeit mit anderen führt dazu, dass man sich von seiner eigenen Botschaft, von seinem Ego entfernt, und das macht alles viel interessanter, weil es wie eine fremde Stimme zurückkommt.

Du schreibst Lyrik und Prosa, aber auch Essays. Was ist für dich das Besondere an diesem Format?

In meinem Fall sind die Essays eine Möglichkeit für Experimente. Der Versuch, bestimmte Gedankengänge auszugrenzen und die Möglichkeit zu akzeptieren, dass in einem Essay antagonistische Ideen nebeneinander existieren können, eine Idee in parallelen Gedankengängen zu suchen, die gleichzeitig gegenteilige Dinge aussagen können. Das ist eine Art anzuerkennen, dass man Fehler macht, dass man sich irrt und dass man es erneut versuchen kann, eine Idee, einen Satz herumschweifen zu lassen, ohne den Druck, einen abschließenden Punkt setzen zu müssen. Man muss diese Idee, Endpunkte an Dinge zu setzen, sie abzuschließen, aufgeben. Denn wenn man aufhört zu lernen, ist man tot.

Ich denke dabei nicht an „Denker“. Cesar Vallejo ist für mich ein außergewöhnlicher Poet. In vielen seiner Gedichte finden sich Reflektionen über die Gesellschaft, in der wir gerade leben und über die, in der er leben musste. Wenn ich lese, konzentriere ich mich nicht auf Essayisten, ich lese alles, verschiedenen Schriftsteller aus ihren entsprechenden Genren, die für mich ebenfalls Essayisten sind, sogar einige Musiker kommen mir wie Essayisten vor. In meinem Land gibt es eine echt interessante Bewegung von neuen Rockbands, an denen mir besonders gefällt, dass sie sich nicht ernst nehmen. Sie sind sehr cool und entspannt, und sie brachen mit dieser vorherrschenden Einstellung, die ich schrecklich finde, mit diesem: „Ich bin der Star und ihr seid das Publikum.“ Das sind Leute, die wissen, das sie es sind, die spielen, aber dass man auch von einem Moment auf den anderen auf der anderen Seite stehen kann. Sie geben sich gegenseitig etwas, Publikum und Band, ein komplettes Feedback. Das Label heißt Laptra und kommt aus La Plata, die haben mich animiert Musik zu hören, die haben mir gute Laune gemacht, die sind erfrischend.

Was bedeutet dir Demokratie?

Unter all den Systemen, die es geben könnte, interessiert mich am meisten die Demokratie. Es scheint mir das System zu sein, in dem man am besten leben kann. Betrachtet man seine Idealform, müsste es wohl ein Raum sein, in dem alle Menschen alle Möglichkeiten hätten, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, man müsste nicht aufgrund von Unterdrückung und ähnlichen Dingen Entscheidungen treffen. Ich würde gern Demokratie wie einen idealen Raum denken, in dem es allen möglich ist, zu denken, eine Stimme zu haben und eine Stimme abgeben zu können, mit der man etwas bewirken kann.

Übersetzung: Barbara Buxbaum

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Mäuschen in der Säule http://superdemokraticos.com/themen/burger/mauschen-in-der-saule/ Mon, 11 Oct 2010 08:56:35 +0000 http://superdemokraticos.com/?p=2857

Dieser Text ist der Mäusefamilie gewidmet, die an der Hauptwache in Frankfurt in einer Säule lebt, mit etwa 14 Mäuschen-Kinderchen. Hektische und putzige Nachtarbeiter im Kollektiv. Dieser Text ist folglich den Diminutiven gewidmet, die Zaubertricks gegen Superlativen.

Dieser Text ist auch der Sprache gewidmet, mit der ich in den vergangenen Tagen kommuniziert habe, die mich unter spanischsprachigen Freunden in eine mir manchmal unangenehme Fremdheit trägt, weil ich die Sprache eher zufällig durchs Leben, nicht in der Schule gelernt habe. Ich nenne diese Sprache „espanol falso“, Falschpanisch. Das ist die pseudomigrantische Währung, die ich unter der Zunge trage.

Frische Äpfel von meinem Brandenburger Bauern, Notizblock, Kamera, ansonsten eine leere Tasche. Dies war nicht meine erste Frankfurter Buchmesse, sondern meine fünfte. Ich fühlte mich vorbereitet. Aber dann kam, als ich die unendlichen Regale sah, eine neue Angst über mich, eine Angst, die ich bisher noch nicht erlebt hatte und die vielleicht mit meiner Rolle als Superdemokratin zu tun hatte: Wer soll das lesen? Ich nicht, niemals. Und selbst, wenn ich eine wohlüberlegte Auswahl träfe, wann könnte ich dann noch schreiben, geschweige denn handeln? Der Teufelskreis der Leser-Schreiber-Bürger lähmte mich zunächst.

Aber zum Glück traf ich viele andere Leser-Schreiber-Bürger auf Gängen, an Ständen, auf Parties, Menschen, die Bücher lieben und klauen und ihre ganz privaten guten Bücher, diese kleinen Geistesbomben, weitertragen oder selbst gestalten, wie die unermüdlichen Eloisa Cartoneras. Die Bomben-Metapher ist geklaut; der unabhängige argentinische Verlag Clase Turista hat bereits ein Buch mit Zündkabel gestaltet.

Ich, als Säulenmensch. Foto: Viktor Nübel

Unabhängige Verlage, ob in Argentinien oder in Deutschland, stellen unter vollem Einsatz ihrer Person und Persönlichkeit solche relevanten Kunstobjekte her, intellektuelle Eingreiftruppen auf dem oft doch sehr gleichgeschalteten Markt. Sie treffen „Entscheidungen für die Zukunft“, wie es Sergio Parra, vom chilenischen Verlag Metales Pesados ausdrückte. Ich fühle mich schon ein wenig heuchlerisch, das jetzt auf ein Blog zu schreiben, aber die „literarische politische Theorie“, die alle Autoren von Los Superdemokraticos in den vergangenen vier Monaten virtuell entwickelt haben, soll es auch in ein paar Monaten gedruckt geben. Wir gehen einfach mal rückwärts: erst online, dann offline. Erst digital vernetzen, dann physisch verbreiten.

Bei der Präsentation des „2010 Ranking of the Global Publishing Industry“ hörte ich mir an, was die großen Konzerne in der Zukunft vorhaben. Trotz der Finanzkrise geht es, so erfahre ich, der Verlagsbranche nicht allzu schlecht, denn die digitalen Märkte boomen, ob in den USA, Spanien oder Deutschland – wie ist das in Lateinamerika?? Die Verlage machen keinen Unterschied mehr zwischen digitalen und, wie sie sagen, „physischen“ Büchern, einzig die Vermarktungswege wären unterschiedlich, hier kommt es auf die Vertriebswege an, aber auch um Zusatzservices wie Empfehlungen, nicht nur nach Algorhythmen. Aha, sag ich da, es geht um menschlichen Austausch. Carolyn Reidy vom US-amerikanischen Großverlag Simon & Schuster macht bei dieser Veranstaltung die poetischste Aussage: „Es werden sich neue Ebookformate entwickeln, aber wir haben sie noch nicht entdeckt. Das macht die nächste Generation, sie haben andere Gehirne als wir.“ Das kann ich bestätigen. Nach dem Aufstehen lief aus meinem linken Auge eine Wasserspur wie aus einer Tränenmaschine. Als ich in der Apotheke Tropfen kaufen wollte, sagte ich: „Es sieht so aus, als ob ich weine, aber ich weine nicht. Mein Auge macht das einfach so.“ Das kommt bestimmt vom Messeklima. Bücher wie Mäuse sollten auch mehr an die frische Luft!

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